Vor etwas mehr als einem Jahr begannen die Proteste auf dem Kiewer Maidan. Am 21. November 2013 starteten verschiedene Oppositionsparteien einen Protestmarathon, der die politischen Verhältnisse langfristig veränderte: nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Europa und weltweit. Wenige Stunden zuvor hatte Ministerpräsident Mykola Asarow bekannt gegeben, dass die Vorbereitungen zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union ausgesetzt werden. Unter dem Hashtag #Euromaidan mobilisierte ein Bündnis, das die Zukunft der Ukraine ausschließlich bei der Europäischen Union sehen wollte.
Vom ersten Tag an wies das politische Spektrum, das den Platz besetzte, besondere Merkmale auf. Neben dem Bündnis aus Vitalij Klitschkos «Ukrainischer demokratischer Allianz für Reformen» (UDAR) und der Allukrainischen Vereinigung «Vaterland» von Julia Timoschenko, die sich zu diesem Zeitpunkt noch in Haft befand, bestimmten die Rechtsextremisten aus Swoboda und dem Rechten Sektor das Geschehen auf dem Platz. Internationale Unterstützung erhielten die Demonstranten frühzeitig von US-Senator John McCain und der Staatssekretärin des US-Außenministeriums Victoria Nuland, während sich Politiker aus der Europäischen Union noch wochenlang sehr zurückhaltend verhielten.
Ein Jahr später herrscht in der Ostukraine Krieg. Über 1.000 Menschen starben allein während der angeblichen Waffenruhe zwischen den Aufständischen in den abtrünnigen Gebieten Lugansk und Donezk und dem ukrainischen Militär beziehungsweise den Freiwilligenverbänden. Insgesamt kamen bisher schätzungsweise 4.000 Menschen ums Leben. Ein Großteil der Gebäude und der Infrastruktur im Osten des Landes ist zerstört. Etwa eine Million Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben und leben als Flüchtlinge in Russland oder in der Ukraine. Die UNO warnt inzwischen vor einem «ausgewachsenen Krieg». Die Einflussnahme Russlands auf den Konfliktverlauf ist dabei offensichtlich. Die NATO führt Manöver in der Ukraine durch, und Russland nahm die Aufklärungsflüge seiner Langstreckenbomber an der Küste Nordamerikas wieder auf. Europa und die USA verhängten weitreichende Sanktionen gegen Russland.
In Deutschland führte der Konflikt in der und um die Ukraine zu einer Form der öffentlichen Polarisierung, die das Land seit dem Mauerfall nicht mehr erlebt hat. Die Darstellung des Konflikts in Politik und Öffentlichkeit beschrieb Gregor Gysi mit den Worten: «Man hat den Eindruck, medial wieder im Kalten Krieg zu leben. » Die Rosa-Luxemburg-Stiftung bemüht sich um eine differenzierte Sicht auf die inneren Prozesse in der Ukraine. Eindeutige Zuweisungen der Verantwortung für den Krieg greifen zu kurz. Mit unseren Aktivitäten tragen wir dazu bei, mehr Verständnis für die verworrene Situation zu erzeugen, Brücken zwischen den progressiven Kräften auf allen Seiten zu schlagen und den Kampf der Betroffenen für Frieden und soziale Gerechtigkeit in schwierigen Zeiten zu fördern.
Mit dieser Publikation aus der Reihe Materialien legen wir Texte vor, die helfen sollen, die Ereignisse in der Ukraine in größere Kontexte einzuordnen.
Den Ausgangspunkt bildet eine Beschreibung der Berichterstattung über die Ukraine in deutschen Medien während des letzten Jahres. Malte Daniljuk untersucht die zentralen inhaltlichen Motive, die das medial vermittelte Wissen über den Konflikt bestimmten, und zieht Schlussfolgerungen, wie das Publikum mit den Produkten journalistischer Arbeit aus Kriegs- und Krisengebieten umgehen sollte.
Lutz Brangsch blickt zunächst darauf zurück, wie der Konflikt entstand und welche historischen und politischen Faktoren zur Eskalation beitrugen. Dazu gehört ein erster Überblick über die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen des Landes sowie eine Übersicht, wie die Ukraine geschichtlich zu einer Wahrnehmung als eigenständige Nation gelangte.
Im Anschluss schildern mehrere Autorinnen und Autoren aus der Binnenperspektive das Vorgehen der unabhängigen linken Gruppen und Parteien in der Region. Taras Salamanjuk beschreibt ausführlich, wie die unterschiedlichen linken Gruppen in der Ukraine sich innerhalb des Konflikts positionierten, wobei er sich besonders auf die weniger bekannten Regionen außerhalb Kiews konzentriert. Bei seinen Schilderungen stützt er sich zu großen Teilen auf seine engen Kontakte mit den «antiautoritären » Strömungen der ukrainischen Linken. Während die tragischen Ereignisse mit ihren vielen Toten auf dem Kiewer Maidan und in Odessa weltweit mit Entsetzen zur Kenntnis genommen wurden, blieben viele Proteste außerhalb Kiews nahezu unbeachtet.
Der Kiewer Journalist Vitalij Atanasov analysiert in seinem Beitrag die letzten Parlamentswahlen in der Ukraine. Die Büroleiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau, Tiina Fahrni, erläutert Blickweisen auf den Ukraine- Konflikt insbesondere anhand von Beiträgen aus den verschiedensten Strömungen der russischen Linken.
Eine zentrale und öffentlich kaum wahrgenommene Problematik ist das Schicksal der Flüchtlinge und Vertriebenen aus der Ostukraine. Sowohl für die ukrainische als auch für die russische Linke stellt die Flüchtlingshilfe ein zentrales Feld ihrer praktischen Arbeit dar. Im Interview schildern die Flüchtlingsaktivisten Olexandra Nasarowa und Maxym Butkewytsch die Lage in der Ukraine.
Der Anlass des aktuellen Konflikts besteht in unterschiedlichen Orientierungen für die wirtschaftliche Zukunft der Ukraine. Judith Dellheim untersucht die soziale und wirtschaftliche Lage in der Ukraine und stellt Schlaglichter aus der wirtschaftswissenschaftlichen Debatte vor.
Schließlich fasst Lutz Brangsch noch einmal die wesentlichen Ereignisse in der Ukraine in den letzten beiden Jahren zusammen.