Vom 21.-23. Mai 1929 findet in Stuttgart ein reichsweites «Vagabundentreffen» statt, an dem 500 Personen teilnehmen. Ende der zwanziger Jahre verschafft sich mit der «Bruderschaft der Vagabunden» eine anarchistisch, später auch kommunistisch orientierte Bewegung von «Landstreichern» und sich selbst so nennenden «Vagabunden» aus dem ihr zugeschriebenen gesellschaftlichen Abseits heraus Gehör: Im «Verlag der Vagabunden» erscheinen ihre Schriften, die eine «Philosophie der Landstraße» entwerfen, zwei Ausstellungen in Stuttgart, parallel zum Treffen 1929 und, weniger erfolgreich, später in Berlin zeigen die Werke ihrer Künstlergruppe. Sie wurde vom «König der Vagabunden» Gregor Gog (1891-1945) gegründet. Ihr gehörten Maler wie Hans Tombrock (1895-1966), Hans Bönnighausen, Gerhart Bettermann oder der Schriftsteller Artur Streiter (1905-1946) an. In diesem Umfeld erscheint auch von 1927-1930 die Zeitschrift Der Kunde bzw. in nur fünf Ausgaben 1931 das Nachfolgeprojekt Der Vagabund an denen sie aktiv mitwirken. Dort werden sozialkritische Artikel, autobiografische Berichte, Lieder und Gedichte, Zeichnungen und programmatische Prosa veröffentlicht. Materialreich und in Farbe erinnert der hier vorliegende Band erinnert in einem breiten Panorama an das Leben und Wirken derer, für die das Unterwegssein einmal ein, so würde es heute genannt werden, «alternativer Lebensstil» gewesen ist.
Die Vagabunden verklären ihr Leben auf der Straße als frei, Schreiben vom Reisen und von Fernweh. Viele scheinen traumatisierte Teilnehmer am Ersten Weltkrieg gewesen zu sein. Real werden sie verfolgt und exkludiert. Auch wenn sich viele unter dem Motto «Generalstreik ein Leben lang!» gegen Staat, Kirche und Sesshaftigkeit positionieren, hat doch die organisierte Arbeiter_innenbewegung einen anderen Fokus. Diese definiert das Lumpenproletariat (der Fahrenden, Obdachlosen und Bettler) von jeher als unzuverlässig, wenn nicht reaktionär. Die Arbeiterbewegung zielt auf Inklusion in den Staat und wirbt für fleißige Arbeit, während die selbsternannte «Internationale der Außenseiter» eher dem Müßiggang huldigt, und eine Art religiösen Urkommunismus der Nächstenliebe propagiert. Der Staat und «die Pfaffen» sind verhasst. Diese Selbstidealisierung funktioniert aber nur, wenn das reale Elend der Vagabunden ausgeblendet wird. 1927 gibt es offiziell 70.000 Obdachlose und einige Jahre später, nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 sind es fast eine halbe Million (S. 230).
Das Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt (FHI) in Dortmund besitzt viele Dokumente aus dieser Zeit. Mit seiner vielfältigen Auswahl an Faksimiles, Nachdrucken aus den Zeitschriften und zwei inhaltlichen Artikeln (vom thematisch ausgewiesenen Walter Fähnders und Hanneliese Palm, bis 2018 Leiterin des FHI) präsentiert dieser Band einen besonderen Teil der Sammlung des Instituts und ruft eine heute vergessene, durch die 1933 sich verschärfende sozialrassistische Zäsur und Verfolgung verdrängte vagabundische (Sub-)Kultur wieder ins Gedächtnis. Der Beitrag von Artur Streiter (S. 123-154) gibt einen guten Einblick in das radikale politische Denken dieser minoritären Gruppe.
Hanneliese Palm, Christoph Steker (Hrsg.): Künstler, Kunden, Vagabunden. Texte, Bilder und Dokumente einer Alternativkultur der zwanziger Jahre; Leske Verlag, Düsseldorf 2020, 240 Seiten, 28 EUR
Hinweis: Zu Gregor Gog gibt es mit Der König der Vagabunden auch eine 2019 erschienene und von der Rosa Luxemburg Stiftung geförderte Graphic Novel.