Eine Geschichte dieser Ereignisse, und erst recht in dieser Qualität, kann heute nur jemand schreiben, der kein Zeitgenosse ist. Schulz geht in seiner 2016 am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz eingereichten Dissertation zurück in die (westdeutschen) 1980er Jahre. Ein Jahrzehnt, das zum einen sehr weit zurück zu liegen scheint, zum anderen mit vielen Themen - Antikommunismus, Migrantisierung der Gesellschaft, Fragen der Ökologie - um nur drei zu nennen, die sprichwörtliche Vorgeschichte der Gegenwart ist.
Inhaltlicher und zeitlicher Kern seiner umfang- wie quellenreichen Arbeit (Inhaltsverzeichnis als PDF) ist die Spätphase der RAF, also die Jahre von 1977 bis 1989, und dort die drei Hungerstreiks der politischen Gefangenen aus der RAF und dem sog. Widerstand 1981, 1984/85 und 1989. Einen Hungerstreik definiert Schulz als eine «politisches Kommunikationsmittel» und «eine auf gesellschaftliche Mobilisierung zielende Widerstandsform».
Bevor im zweiten bis vierten Kapitel auf die jeweiligen Hungerstreiks eingegangen wird, stellt Schulz die Vorgeschichte dar. Er skizziert die Haftbedingungen, stellt Isolationsbedingungen und andere Sonderauflagen vor und schuildert die ausgreifende und aufwühlende juristische, ethische und medizinische Debatte um Zwangsernährung als Antwort auf Hungerstreiks. Als Akteursgruppen mit denen die Inhaftierten kommunikative Beziehungen unterhielten, definiert und unterscheidet er drei, und untersucht und reflektiert ihr jeweiliges Verhalten. Erstens das aus mehreren hundert Personen bestehende unmittelbare Umfeld aus politischen SympathisantInnen inklusive der vergleichsweise kleinen, aber umso aktiveren Gruppe der «Angehörigen der politischen Gefangenen». Einige aus dieser Gruppe gehen dann selbst in die Illegalität. Ein weiterer Kern in dieser Gruppe sind die gut 30 AnwältInnen der politischen Gefangenen, die man heute oftmals als «Bewegungsunternehmer» bezeichnen würde. Die zweite Gruppe ist das politische Umfeld (in) der breiteren radikalen, kommunistischen Linken, die dritte die alternative Linke im weiteren Sinne und auch die linksliberalen Stimmen in der Publizistik und der Justiz. Schulz beschreibt die Solidaritätsbewegung bis 1981, die aber, da die sich stark ausbreitende Alternativbewegung keinerlei Interesse an dem Thema hat, vor immer größeren Schwierigkeiten steht.
Zuallererst wird aber in einem Rückblick gefragt, wo das Instrument des (ja ursprünglich religiös konnotierten) Fastens und des «Hungerstreiks» herkommt: es wurde im politischen Kontext zuerst in Nordirland eingesetzt. 1974 hatte es mit Holger Meins bereits einen Toten durch Hungerstreiks und Zwangsernährung gegeben, dem 1981 Sigurd Debus, der allerdings kein RAF-Mitglied war, folgen sollte.
Es darf dabei aber niemals vergessen werden, dass die allermeisten Inhaftierten in Einzelhaft sind. Es gibt nur zwei Kleingruppen, eine aus Männern in der Justizvollzugsanstalt Celle und eine aus Frauen in der in Lübeck. Durch Zensurbedingungen und massive Einschränkungen der Verteidigung wird die Kommunikation gezielt sehr verlangsamt, wenn nicht verunmöglicht.
In allen drei Hungerstreiks zeichnet Schulz ausführlich die jeweilige Bündnispolitik, die Strategie und das Verhältnis der jeweiligen Akteursgruppen zueinander nach, was spannende Einblicke in dieses sonst eher von der Gesellschaft isolierte Geflecht linksradikaler Gruppen ermöglicht. Gerade den Vorlauf des Hungerstreiks 1989 nachzulesen ist spannend, da hier Mikrodebatten in der radikalen Linken dokumentiert werden. Debatten, die für die neue Bündnisfähigkeit verschiedener linksradikaler Strömungen von enormer Wichtigkeit waren und Folgen bis in den Nach-Wende-Zeit und die 1990er Jahre hatten. Es werden aber auch ebenso die verschiedenen Fraktionen im politischen Raum und im Justiz- und Gefängnisapparat skizziert. Vor dem Hungerstreik 1989 hatte z.B. die damalige Bundestagsabgeordnete Antje Vollmer und andere, aus dem grünen, links-religiösen und linksliberalen Milieu 1987 eine sog. Dialog-Initiative gestartet.
Anfang 1992 kommt es schließlich zur Initiative des damaligen Bundesjustizministers Kinkel zur «Lösung des Terrorismusproblems» in der BRD. Er bietet Hafterleichterungen bis hin zu Entlassungen an, wenn die RAF von weiteren Aktionen absähe. In der Debatte um die Einschätzung dieser sog. Kinkel-Initiative kommt es zu einem Bruch unter den Gefangenen: Brigitte Mohnhaupt und andere weisen das Angebot zurück; Karl-Heinz Dellwo, Lutz Taufer und andere, die sich schon vorher für eine Öffnung hin zur Gesellschaft ausgesprochen hatten, wollen darauf eingehen. Im April 1992 erscheint die sog. «Deeskalationserklärung» der Illegalen. 1993 spaltet sich das Gefangenenkollektiv als Spätfolge der Kinkel-Initiative. 1998 erklärt sich die RAF als aufgelöst. Die letzten Gefangenen aus der RAF werden erst 13 Jahre später, im Juni 2011, aus der Haft entlassen.
Schulz hat eine Pionierarbeit vorgelegt. Sie ist sehr detailliert ist, was unwillkürlich an einigen Stellen zu einer gewissen Langatmigkeit führt. Sie ermöglicht den Nachvollzug der internen Debatten unter den Gefangenen und in und mit ihrem Umfeld, und sie zeigt die unterschiedlichen Reaktionen auf die Veränderungen der politischen Verhältnisse und einzelne politische Initiativen (Vollmer-, Kinkel-Initiative, aber auch die umstrittene Erschießung des US-Soldaten Edward Pimental 1985).
Als Resultat hält Schulz fest, dass die Inhaftierten in ihrem näheren Umfeld Resonanz erzielen konnten, und im Hungerstreik 1989, einige Monate vor dem Fall der Mauer, auch (erstmals) darüber hinaus. In der Rückschau lässt sich allerdings erkennen, dass die Öffnung der Gefangenen und ihres Umfeldes hin »zur Gesellschaft auch das Ende des Projektes «bewaffneter Kampf» war, zumindest wie es ursprünglich einmal als Avantgardekonzept angelegt war. Schwerpunkt der Untersuchungen ist Rhein-Main und Hamburg, wobei in beiden Regionen lokale Besonderheiten sichtbar werden. Baden-Württemberg spielt nahezu keine Rolle, obwohl es dort eine aktive und vergleichsweise große antiimperialistische Szene gab. Viele (wichtige) Angehörige der RAF, und viele ihrer Opfer stammen von dort oder leb(t)en in Baden-Württemberg. Nicht zuletzt haben viele juristische Organe dort ihren Sitz, und auch der berühmte sog. Stammheim-Prozess fand in diesem Bundesland statt. Die Kritik soll aber nicht die eindeutigen Leistungen dieses Buches schmälern.
Jan-Hendrik Schulz: Unbeugsam hinter Gittern. Die Hungerstreiks der RAF nach dem Deutschen Herbst, Campus-Verlag Frankfurt/Main 2019, 590 Seiten, 65 EUR
Auf dem Portal zeitgeschichte-online sind acht Beiträge von Schulz zum Thema «Rote Armee Fraktion» veröffentlicht (mehr).