Analyse | Soziale Bewegungen / Organisierung - Partizipation / Bürgerrechte - Osteuropa Belarus: «Die Stimmung ist nicht mehr dieselbe»

Proteste, repressive Staatspolitik und Hoffnung auf den Frühling

Information

Solidarität mit den politischen Gefangenen in Belarus in Toronto
Über 2.000 Strafprozesse fanden bisher im Zuge der Proteste in Belarus statt, aktuell werden 325 Personen als politische Gefangene gelistet. Über 450 Fälle von Folter und Misshandlungen wurden von der UNO dokumentiert.
  Demonstration gegen die Inhaftierung politischer Gefangener in Belarus am 3. April 2021 in Toronto, picture alliance / REUTERS | Kyaw Soe Oo

Auf dem Höhepunkt der Proteste gegen die manipulierten und gefälschten Präsidentschaftswahlen in Belarus veröffentlichte die Band «RSP: Razbitae serca pacana» (dt. «Das zerbrochene Herz eines Kerls») in den letzten Tagen des Augusts 2020 einen neuen Song. Das Lied und der dazugehörige Clip avancierten schnell zum Kult. Auf Trasjanka, eine Mischung aus Belarussisch und Russisch, stellen die Musiker fest: «die Stimmung im Land ist nicht mehr dieselbe». Auch wenn der seit 1994 amtierende Präsident Aliaksander Lukaschenka und «Oma Zina» (Anm.: Leiterin der Zentralen Wahlkommission) ihre Ämter immer noch nicht niedergelegt haben.

Sieben Monate später sind die Leiterin der Wahlkommission und der von ihr zum Wahlsieger erklärte Lukaschenka immer noch im Amt: trotz massiver Proteste gegen Wahlfälschung und trotz der massiven Gewalt gegen die Demonstrant*innen. Freie und faire Neuwahlen sind in weite Ferne gerückt. Die Opposition hat bis heute keine ihrer Forderungen erreicht. Swiatlana Tsichanouskaja, die gezwungenermaßen im Exil lebende Oppositionsführerin, hat kürzlich eingestanden, dass zumindest die Straßenproteste gescheitert seien. Ist die Proteststimmung also vollends verschwunden und konnte Lukaschenka seine Macht letztendlich wieder festigen?

Alesja Belanovich-Petz studierte Geschichte an der Staatlichen Pädagogischen Universität Minsk. Sie arbeitete für das Projekt «Dokumentation lebensgeschichtlicher Interviews mit ehemaligen Sklaven- und Zwangsarbeitern» in Belarus und absolvierte von 2006 bis 2007 einen Freiwilligendienst in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und beim Verein «Psychosoziale Arbeit mit Verfolgten in Hamburg». In der Geschichtswerkstatt Minsk arbeitete sie in Projekten mit Jugendlichen und engagierte sich für NS- und Stalinismus-Opfer. Außerdem wirkte sie am Online-Archiv Nashapamiac.org mit, das sich mit Oral History in Belarus beschäftigt. Sie war Stipendiatin der Rosa-Luxemburg Stiftung und Doktorandin der Universität Hamburg zum Thema: «‹Ostarbeiterinnen› aus Belarus: Geschlechtsspezifische Erfahrung der Zwangsarbeit und des weiteren (Über)-Leben im Heimatland». Sie lebt in Berlin und ist als freie Projektmanagerin und Bildungstrainerin tätig.

Kriminalisierung der Proteste

Es vergeht bis heute fast kein Tag ohne schlechten Nachrichten aus Belarus. Jede Woche werden Journalist*innen, Aktivist*innen oder einfache Menschen aufgrund absurder Tatbestände zu hohen Haftstrafen verurteilt. Dabei geht der Staatsapparat systematisch vor: Zur Zielscheibe wurden direkt nach der Wahl die Protestierenden selbst. Die Versuche mit äußerster Härte die Proteste zu zerschlagen, trieben allerdings noch mehr Menschen auf die Straße. Bis heute sind sechs Menschen im Zuge der Proteste gestorben. Hunderte von Belarus*innen, darunter auch Journalist*innen, erlitten schwere Verletzungen durch Gummigeschosse und Blendgranaten. Die UNO hat über 450 Fälle von Folter und Misshandlungen dokumentiert. In keinem dieser Fälle ermittelt der Staat.

Stattdessen werden Demonstrierende gezielt kriminalisiert. So wurde beispielsweise Ende Februar in einem öffentlichen Gerichtsprozess ein Ereignis verhandelt, der sich am 11. August 2020 in Brest zugetragen hat. An diesem Protestabend wurde der 44-jährige Genadz Shutau mit einem Kopfschuss schwer verletzt. Acht Tage später verstarb er in einem Militärkrankenhaus in Minsk. Erst im Prozess wurde bekannt, dass auch die belarusische Armee gegen die Protestierenden eingesetzt wurde. Dabei wurde aus einem Befehl von Wadzim Dzianisenka zitiert, dem Kommandanten der Spezialeinheiten der belarussischen Armee, der – «falls erforderlich» – die Anwendung von Schusswaffen genehmigte. Menschenrechtsaktivist*innen verweisen darauf, dass das Gesetz «Über die Streitkräfte der Republik Belarus» den Einsatz der Armee gegen die Zivilbevölkerung in Friedenszeiten nicht gestattet. Darüber hinaus verbietet das Völkerrecht den Einsatz von Streitkräften gegen Zivilist*innen auch in Kriegszeiten. An besagtem Abend des 11. August waren zwei Militärangehörige ohne Abzeichen und in ziviler Kleidung in der Protestmenge unterwegs. In ihren Gürteltaschen trugen sie Schusswaffen bei sich. Shutau und sein Freund Aliaksandr Kordzjukau sprachen die beiden Männer an, weil sie vermuteten, dass es sich bei den beiden um Spitzel handelte. Es kam zu einem Streit und Handgemenge. Dabei wurde Shutau von hinten mit einem Kopfschuss getroffen. Galitsin, der den Schuss abgab, sagte aus, dass er zur Waffe gegriffen habe, weil er sich «unwohl gefühlt» habe. Aber nicht Galitsin stand als Angeklagter vor Gericht, sondern der verstorbene Shutau und sein Freund Kordzjukau. Beide wurden schuldig befunden wegen des «Widerstands gegen eine Person, die Aufgaben der öffentlichen Ordnung wahrnimmt». Kordzjukau erhielt eine Haftstrafe von zehn Jahren mit besonders strengen Auflagen.

Wenn die Umstände nicht derart tragisch wären, könnte man solche Fälle für Szenen aus einer Filmsatire halten. Aber genau das ist im Moment die belarussische Realität: Willkür durch einen Repressionsapparat, der sich um jeden Preis durchsetzen will. Maksim Pauljuschtschyk beispielsweise erhielt für die Losung «Wir vergessen nicht» auf einem Bürgersteig an der Metro-Station «Puschkinskaja» zwei Jahre Haft, Iwan Kanewega drei Jahre, weil er während der Proteste auf ein Polizeiauto mit der Hand geklopft hatte. Der 34 jährige IT-Spezialist Stiapan Tschikiljeu wurde von einem Dienstauto der Miliz auf dem Protestmarsch Mitte November 2020 angefahren und daraufhin von Sicherheitskräften schwer verprügelt. Er wurde wegen «böswilligen Rowdytums» zu drei Jahren in einem offenen Strafvollzug verurteilt. Der bekannte Menschenrechtler Ales Bialiatski spricht von über 2.000 Strafprozessen im Zuge der Proteste.

Von diesen ist die politische Opposition besonders betroffen: Der oppositionelle Koordinierungsrat wurde Mitte August 2020 als ein Beratungsgremium mit über 70 Vertreter*innen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Zivilgesellschaft ins Leben gerufen und setzte sich für politische Verhandlungen und eine friedliche Machtübergabe ein. Sieben Mitglieder aus dem Führungsstab des Koordinierungsrats, darunter auch Maryja Kalesnikawa und der Streikführer der Minsker Traktorfabrik Siarhej Dyleuski, sind noch immer in Haft oder haben das Land verlassen. Auch die Literaturnobelpreisträgerin Swiatlana Aleksijewitsch, die in den Rat berufen wurde, ist Ende September 2020 aus Angst vor einer Verhaftung nach Deutschland ausgereist. Kalesnikawa, die sich seit September 2020 im Gefängnis befindet, wird «eine Verschwörung mit dem Ziel einer illegalen Machtergreifung, sowie Gründung und Führung einer extremistischen Vereinigung» vorgeworfen. Ihr drohen bis zu zwölf Jahre Haft. Vor Kurzem wurde ihrer Anwältin Ljudmila Kazak die Lizenz entzogen. Sie ist bereits die vierte Anwältin von Kalesnikawa, die gezielt an ihrer Arbeit gehindert wird.

Parallel geht das Regime gegen Medien und Journalist*innen vor, die Informationen über staatliche Repressionen verbreiten und besonders skandalöse Fälle aufklären. Zudem gegen Organisationen, die Informationen zu Fällen sammeln, an denen Sicherheitsstrukturen oder andere Regimevertreter*innen beteiligt sind. Seit Dezember 2020 befinden sich unter dem Vorwand der Steuerhinterziehung fünf Mitarbeiter*innen des «Press Club Belarus» in Haft. Im Februar 2021 wurde das Büro der Belarussischen Journalistenvereinigung BAJ und Filialen der Menschenrechtsorganisation Viasna96 durchsucht und dabei Computer, Festplatten und Dokumente konfisziert. In einem Aufsehen erregenden Urteil wurden die beiden Belsat-Journalistinnen Katsiaryna Andrejewa und Darja Tschulzowa zu zwei Jahren Haft verurteilt. Den beiden wurde vorgeworfen, dass sie mit ihrem Live-Streaming von einer Gedenkveranstaltung für Roman Bondarenko, der am 11. November 2020 von maskierten Männern zusammengeschlagen worden war und schließlich seinen Verletzungen erlag, Proteste organisiert und so zu Massenunruhen beigetragen haben. Auch Student*innen, Wissenschaftler*innen, streikende Arbeiter*innen, bekannte Sportler*innen, eigentlich Vertreter*innen aller Berufsgruppen, die ihre Loyalität aufkündigen und sich gegen das Regime stellen, werden entlassen, exmatrikuliert oder zu Haft- oder Geldstrafen verurteilt. Aktuell werden 325 Personen als politische Gefangene gelistet.

Staatliche Gewalt und Repressionen statt Dialog

Seit Beginn der Präsidentschaftskampagne im Mai 2020 bis Ende des Jahres wurden laut Angaben der Menschenrechtsorganisation «Viasna» über 33.000 Personen nach Paragraf 23.34, dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten wegen der «Verletzung der Organisation oder Durchführung von Massenveranstaltungen» festgenommen. Im Grunde macht sich jede Person, die an einer Demonstration teilnimmt, gemäß dieses Artikels strafbar und kann wegen der Teilnahme an einer nicht genehmigten Kundgebung verhaftet und zu einer Geld- oder Haftstrafe von bis zu 15 Tagen verurteilt werden. Die Geldstrafe beläuft sich meist auf ein durchschnittliches Monatsgehalt. Dieser Artikel ist ein wichtiges Gesetz im Repressionssystems des Regimes, da es sich explizit gegen die Protestierenden als auch prominente Unterstützer*innen richtet.

Seit vergangenem Herbst versucht das Lukaschenka-Regime nicht nur jegliche Form der Proteste im Keim zu ersticken, sondern auch Symboliken, Graffiti oder andere Botschaften aus dem öffentlichen Raum, aber auch aus Fenstern, Höfen und sogar von Bäumen, Wiesen und zugefrorenen Seen zu verbannen. Dabei kommt es auch in Bezug auf den oben genannten Paragraphen immer wieder zu Anklagen. Beispielsweise erhielt die 75-jährige Iraida Misko eine Geldstrafe über 175 Euro, weil sie an «nicht genehmigten Kundgebungen» teilgenommen haben soll. Als Beweis zeigten die Justizbehörden ein Foto von Misko mit weiß-rot-weißem Lokum, einer Süßigkeit, in der Hand. Der Milizionär Jauhen Siamashka sagte vor Gericht wie folgt aus: «Mit diesem Lokum hat sie ihren Protest zum Ausdruck gebracht».

Hoffeste statt Straßenproteste

Aufgrund der massiven Repressionen gibt es seit November 2020 keine großen Straßenproteste mehr, die die Stadtzentren einnehmen. Stattdessen kann man bis heute immer wieder Gruppen von Menschen beobachten, die abends durch die Bezirke ziehen und Losungen wie «Uchodi!» (Hau ab!) skandieren. In einzelnen Stadtbezirken und Wohnvierteln wurden seit September 2020 zudem spezifische Protestaktionen entwickelt. Über Telegramkanäle verabredeten sich Nachbarschaften zum gemeinsamen Teetrinken und Essen. Bei diesen Hinterhoffesten traten Musiker*innen auf oder Expert*innen hielten Vorträge. In den sozialen Netzwerken verbreiteten sich Fotos und Videos von Belarus*innen, die zusammen tanzten und diskutierten. So wurden die einst verschlafenen Höfe zum lebendigen Ort der Kommunikation, des Kennenlernens und damit zu Schaltstellen der Selbstorganisation. Für das Lukaschenka-Regime stellt genau das eine Gefahr dar.

Folglich stuften die Sicherheitsbehörden die Hoffeste als «nicht genehmigte Kundgebungen» ein, Musiker*innen und Teilnehmer*innen wurden seit Ende September 2020 gezielt verfolgt und inhaftiert. Besonders aktive Bezirke wurden vom Exekutivkomitee der Stadt Minsk mit eingeführten «Maßnahmen zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, Disziplin und Wiederherstellung der Ordnung in den Bezirken» mit Razzien überzogen. Lukaschenka wird dabei nicht müde, den Mitarbeiter*innen der Sicherheitskräfte öffentlich seinen Zuspruch zu zeigen, sie als «Verteidiger des Vaterlandes» zu loben für ihren «tadellosen Dienst» auszuzeichnen. Der Grund ist offenkundig: Das Regime schützt diejenigen, die das Regime schützen.

Allbelarussische Versammlung und Freundschaftsbekundungen mit Russland

Vor dem Hintergrund der repressiven und depressiven Atmosphäre im Land erklärte Lukaschenka das Jahr 2021 zum Jahr der nationalen Einheit und kündigte die Allbelarusische Volksversammlung an. Diese Versammlung entstand Mitte der 1990er Jahre auf Initiative von Lukaschenka und wurde von Beginn an genutzt, um Lukaschenka als fürsorglichen Landesvater zu propagieren. Am 11. und 12. Februar 2021 fand die 6. Allbelarusische Volksversammlung mit rund 2.700 Delegierten und Gästen in Minsk statt. Der Auswahlprozess der Delegierten wird von der Präsidialverwaltung kontrolliert und gesteuert, eine demokratische Repräsentanz ist nicht gegeben. Von Lukaschenka war die Versammlung angeordnet worden, um sich mit den Problemen und der Zukunft des Landes zu beschäftigen. In der mehr als 20-jährigen Geschichte dieser Versammlung ist es keinem Oppositionellem gelungen teilzunehmen. Auch dieses Jahr waren nur sorgfältig ausgewählte Gäste zugegen. Anders gesagt, eine kritische und kontroverse Diskussion über die politische Krise im Land war von der Staatsführung nicht gewünscht. Im Stil der Versammlungen der KPdSU hielt Lukaschenka stundenlange Reden und verteufelte darin die Protestierenden. Während der Versammlung kam es immer wieder zu grotesken Szenen: Ein Militärkommissar aus Homel beispielweise lobte Lukaschenka in blumigen Worten und schüttelte schließlich die Hand des Autokraten, um dessen «Energie und Entschlossenheit zu spüren». Zurück in Homel drehte er ein Video, in dem er die Energie des Handschlags an seine Kollegen weitergibt. Auch der Parteiführer der russischen KPRF, Gennadi Sjuganow, der an der Versammlung als Gast teilnahm, verkündete seine Bewunderung für batska (Anm.: volkstümliche Bezeichnung für Lukaschenka) und für die Sicherheitskräfte, die «im Angesicht des Hybridkriegs des Westens gegen Belarus und Russland» ihre Stärken zeigten. Dieses bekannte Narrativ hat Lukaschenka in seiner vierstündigen Rede aufgegriffen und weitergeführt. Er sagte, dass er bereit wäre, für sein Land und für Russland zu sterben. Im eigenen Wahlkampf hatte er noch antirussische Töne angeschlagen, Russland als Bedrohung bezeichnet und sich als einzigen Garanten für die Unabhängigkeit Belarus inszeniert.

Der Politologe Waleri Karbalewitsch urteilte, dass «diese Farce für den wichtigsten Zuschauer in Moskau gedacht war». Denn auch der Kreml hatte auf dem Höhepunkt der Proteste im Herbst gefordert, dass Lukaschenka über eine Umverteilung der Macht nachdenken müsse. Lukaschenka beauftragte eine Kommission, Vorschläge für eine Verfassungsreform zu erarbeiten: verschiedene Staatsorgane sollten unabhängiger sowie das Parteiensystem und Parlament gestärkt werden. Lukaschenka schlug auf der Allbelarussichen Versammlung vor, dass die Arbeit an einer neuen Verfassung bis 2022 fortgeführt werden solle. Zudem stellte er ein Referendum in Aussicht. Referenden gehören allerdings seit jeher zu Lukaschenkas Instrumentarien, um demokratische Beteiligung vorzutäuschen. In der Opposition dürfte es niemanden geben, der Lukaschenka Ernsthaftigkeit in Bezug auf eine Verfassungsreform unterstellen würde. Wie auch, wenn die Forderung nach einem echten Dialog mit Repression, Verfolgung und Gewalt beantwortet wird? Der Politologe Pjotr Kuzniatsou kommentiert den Weg des Regimes so: «Es gibt kein Verständnis der tiefen Krise im Land und keine Bemühungen, die Krise zu lösen. Nur eine Strategie, auf Zeit zu setzen und zu hoffen, dass die Probleme irgendwie von selbst verschwinden.»

Die wirtschaftliche Krise im Land - russische Kredite als Ausweg und ihr Preis

Für das Spiel auf Zeit ist der Kreml ein wichtiger Partner für den langjährigen Autokraten Lukaschenka. Bereits am 6. September 2020 hatten sich Putin und Lukaschenka in Sotschi getroffen. Dabei gerierte sich Lukaschenka als unterwürfiger Bittsteller und erhielt von Putin nicht nur verbale Rückendeckung, sondern auch einen Kredit in Höhe von 1,5 Milliarden US-Dollar. Am 22. Februar 2021 trafen sich die beiden Präsidenten erneut am Schwarzen Meer. Über «die langwierigen Gespräche» drangen keine detaillierten Informationen an die Öffentlichkeit. Belarusische Expert*innen sind sich jedoch einig, dass über neue Kredite, sowie weitere Integrationsschritte in Richtung Unionsstaat verhandelt wurde. Diese tiefere Integration hatte Lukaschenka noch vor der Wahl vehement abgelehnt. Ob Lukaschenka als schwacher Präsident, der die Mehrheit der Bevölkerung gegen sich hat, in den Augen der russischen Führung der Richtige ist, um die Integration beider Staaten voranzutreiben, ist eine der wichtigsten Fragen, an denen sich wohl die Zukunft Lukaschenkas entscheiden wird. Solange sich für Moskau keine neuen Handlungsoptionen ergeben, setzt der Kreml weiterhin auf die symbolische Unterstützung der wiedergewonnenen Einigkeit.

Die Unterstützung des Kremls ist für Lukaschenka unabdingbar, ohne diese könnte er nicht derart gezielt gegen die Protestbewegung vorgehen. Aktuell kann er sich der Rückendeckung jedoch sicher sein, da sich auch Russland – auf Grund von Corona und einer unterschwelligen Proteststimmung – derzeit in einer schwierigen Situation befindet. Die Beziehung zwischen Putin und Lukaschenka ist weiterhin nicht vertrauensvoll, oberstes Ziel Russlands ist jedoch Belarus im russischen Einflussbereich und als Pufferzone zur EU und NATO zu halten. Denn früheren Handlungsspielraum in Verhandlungen über Kredite und Rohstofflieferungen, die Drohung Belarus gen Westen in Richtung EU zu öffnen, hat Lukaschenka vorerst verspielt. Den bräuchte es jedoch, um Investitionen ins Land zu holen und die dauerkriselnde belarussische Wirtschaft zu stabilisieren.

Vor allem die weitgehend unrentablen Staatsbetriebe müssten reformiert und modernisiert werden. Zugleich sind die staatlichen Betriebe ein bedeutendes politisches Herrschaftsinstrument, da die Arbeitsplätze von staatlicher Finanzierung und damit vom Regime abhängig sind. Tiefgreifende Reformen der Staatsunternehmen sind unter Lukaschenka kaum denkbar, was auf der Volksversammlung einmal mehr bestätigt wurde. Premierminister Raman Galoutschanko erteilte umfassenden Reformvorhaben eine Absage. Die Weltbank prognostiziert, dass Belarus im Jahr 2021 das einzige Land in Osteuropa sein wird, in dem das BIP sinken wird. Im Zuge der Repressionen verliert Belarus immer mehr IT-Arbeitskräfte und Unternehmen, die bis dato ein Hoffnungsschimmer für die Wirtschaft waren. Viele IT-Firmen haben seit August 2020 für ihre Mitarbeiter*innen einen Umzug nach Polen, Litauen oder in die Ukraine organisiert. Bereits Ende Oktober 2020 berichtete onliner.by, dass über 1200 IT-Spezialist*innen Belarus verlassen haben. Auch wenn in Belarus zu keiner Zeit der Pandemie ein Lockdown verhängt wurde, haben die Coronakrise und die politische Krise große Auswirkungen auf die Wirtschaft. Ein deutliches Anzeichen dafür ist, dass im Februar die Preise für 62 «sozial wichtige Produkte» und 50 Medikamente eingefroren wurden. Die durch das Dekret «Über vorübergehende Maßnahmen zur Stabilisierung der Preise für sozial wichtige Grundgüter» festgelegte Warenliste umfasst Milchprodukte, Fleisch, Fisch, Mehl, Eier, Butter, Gemüse, Salz, Zucker sowie Haushaltswaren wie Seife und Windeln. Der Wirtschaftsexperte Mikhail Kavajeu ist der Meinung, dass «der Preisanstieg in der Regel darauf zurückzuführen ist, dass der belarussische Rubel im Vergleich zum Vorjahr gegenüber dem Dollar um etwa 20 Prozent abgewertet worden sei».

Die Stimmung ist nicht dieselbe

Lukaschenka genoss über viele Jahre großes Vertrauen in einer breiten Schicht der Bevölkerung. Dieses Vertrauen ist nun zerstört. Die Staatsführung hat sich nicht zuletzt durch die massive Gewalt selbst delegitimiert. Der Staat reduziert sich aktuell auf Repressionen, um sein eigenes Überleben zu sichern. Gleichfalls ist zu erwarten, dass weitere Gesetze nach russischem Vorbild über «ausländische Agenten» und «gegen Extremismus» die Macht des Regimes nicht nur festigen, sondern auch ausbauen werden. Hinzu kommt, dass die Gesellschaft schwer traumatisiert ist. Alleine im August und September 2020 haben nach offiziellen Angaben des Amtes für Migration 14.000 Belarus*innen das Land in Richtung Polen, Litauen, Lettland und Ukraine verlassen. Das sind mehr Menschen als im gesamten Vorjahr. Diese Tendenz nimmt zu, weil viele Belarus*innen sich in ihrem Land nicht mehr sicher fühlen. Der Staat reagiert darauf mit geschlossenen Grenzen und einem Gesetzesvorschlag zur «Entziehung der belarusischen Staatsbürgerschaft für extremistische Arbeit».

Wie aber kann diese tiefgreifende Krise gelöst werden? Der Politologe Karbalewitsch schreibt: «Der Kult der rohen Gewalt charakterisiert sehr gut das Unvermögen des herrschenden Regimes, sich an die neue Realität anzupassen. Das Regime hat kein Narrativ für die Zukunft, außer der Erhaltung des Status quo, der auf Angst und Gewalt beruht. Lukaschenka versteht nicht einmal die Notwendigkeit eines Zukunftsnarrativs.» Auf Grund massiver Gewalt und Repressionen ist die Stimmung im Land nicht mehr dieselbe. Die Proteste haben gezeigt, dass viele Belarus*innen sich eine Zukunft in einem Rechtsstaat ohne Lukaschenka wünschen und bereit sind, dafür vieles zu riskieren. Viele erwarten nun den Frühling mit der Hoffnung auf ein neues Zeichen des Wandels.