Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Linke und jüdische Geschichte - Deutsch-deutsche Geschichte Von Seltmann: Wir sind da. 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland; Erlangen 2021

Ansprechend gestaltetes Buch hat viele Qualitäten

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Von Seltmann hat das offizielle Buch zur in diesem Jahr stattfindenden Kampagne «1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland» vorgelegt. Die Leserin findet einen soliden und ausführlichen Überblick über jüdisches Leben in Deutschland, von den Römern bis zur neuen, hippen Generation jüdischer Autor*innen wie etwa Max Czollek.

Das Buch ist in mehrere Abschnitte gegliedert. In zwei historischen, chronologisch aufgebauten wird die jüdische Geschichte bzw. die Geschichte der Juden und Jüdinnen in Deutschland nacherzählt. In sieben Portraits werden einzelne Personen, von Moses Mendelssohnüber Bertha Pappenheim bis André Herzberg beispielhaft vorgestellt.

Auch wenn es typisch deutsch ist, erst einmal zu definieren und zu zählen, ist es hilfreich, immer wieder Zahlen zu lesen zu bekommen. So wanderten z.B. von 1990 bis 2005 ungefähr 200.000 Juden und Jüdinnen aus Osteuropa nach Deutschland ein, was die Situation der jüdischen Gemeinden völlig veränderte; 1989 hatte es in der BRD 28.000 Juden und Jüdinnen gegeben, in der DDR nur 500 in Gemeinden organisierte (und weitere jenseits davon). Die Hälfte der Juden ist heute nicht Teil einer Gemeinde, und ein Drittel aller Juden und Jüdinnen in Deutschland ist über 70 Jahre alt. Global gesehen sind die deutschen Juden immer eine Minderheit gewesen, selbst in der Blütezeit des deutschen Judentums, in der Weimarer Republik, lebten nur vier Prozent aller Juden in Deutschland (1925 sind es über eine halbe Million). In New York lebten zu dem Zeitpunkt 1,8 Millionen Juden. Die meisten, geschätzt über sieben Millionen, lebten in Osteuropa – ein Produkt der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Vertreibungen vom Westen Europas her.

Der berühmte Journalist Marcel Reich-Ranickischrieb einmal: Die Juden wurden verfolgt, weil sie anders waren; und sie waren anders, weil sie verfolgt wurden (S. 15). Das Buch beschreibt die jahrhundertelange Verfolgung, kreist aber nicht um sie. Es berichtet über die Shoah («der deutsche Rassenwahn hatte ein Ziel: den Tod») wie auch von den Überlebenden im postnazistischen Deutschland Ost und West. Es zeigt die Vielfalt und die Widersprüchlichkeit jüdischen Lebens heute, und ist dazu ausgesprochen angenehm geschrieben. Für seine Lektüre muss man nicht Geschichte studiert haben, und selbst jene, die das getan haben, werden in ihm noch viel Neues entdecken. Es ist auch für die Oberstufe und die außerschulische Erwachsenenbildung geeignet.

Es gibt heute jüdisches Leben, aber eben angesichts von Morden wie in Halle, angesichts von 2000 erfassten antisemitischen Straftaten im Jahre 2019 oder des immens hohen Antisemitismus´ in der Bevölkerung kein normales oder gar angstfreies Leben.

Finanziell mit möglich gemacht hat dieses, wie der Verlag es nennt, «erzählende Sachbuch» der Verein «321–2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland»; dass im Vorwort die Shoah «in deutschem Namen» und nicht von Deutschen begangen wurde, fällt angesichts der vielen Qualitäten des auch sehr ansprechend gestalteten und illustrierten Buches nicht so stark ins Gewicht.

Uwe von Seltmann: Wir sind da. 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, homunculus Verlag, Erlangen 2021, 344 Seiten, 29,90 EUR