Die erste Ausstellung zu jüdischer Geschichte nach Kriegsende findet nicht etwa, wie es zu Erwarten wäre, in Berlin/West oder Frankfurt/Main statt, sondern 1960/61 in Recklinghausen. «Synagoga» wandert aber anschließend an den Main (und ist hier digitaldokumentiert). Diese und sehr viele andere spannende Informationen bietet das aktuelle Heft der GWU, das insgesamt neun Beiträge enthält.
Miriam Rürup schreibt zur Institutionalisierung jüdischer Zeitgeschichte in der Bundesrepublik und fragt «Wem gehört die jüdische Geschichte?». Sie schildert, wie ab Anfang der 1960er Jahre in der Bundesrepublik langsam wieder Forschung (und Lehre) zur jüdischen Geschichte etabliert wird. Zuerst geschieht dies außeruniversitär, etwa durch das erst 1966 gegründete Institut für die Geschichte der deutschen Judenin Hamburg, das das erste wissenschaftliche Institut in Deutschland war, das sich ausschließlich mit deutsch-jüdischer Geschichte beschäftigte. Jacob Taubes(1923-1987) bezieht den ersten Lehrstuhl für Judaistik ebenfalls im Jahre 1966. Adolf Leschnitzer lehrte bereits ab 1955 (bis 1972) an der FU Berlin als Honorarprofessor Geschichte des deutschen Judentums.
Der Gegenstand des Beitrages von Inka Bertz (Kuratorin für Kunst am Jüdischen Museum Berlin) läuft parallel: Jüdische Museen (und Sammlungen) in der Bundesrepublik vor und nach 1989/90. Viele Objekte waren im Nationalsozialismus zerstört worden, das Personal diesbezüglich oft inkompetent, wenn nicht gar, wie etwa in Braunschweig NS-belastet. Dies änderte sich langsam und schrittweise. 1988 erst wird z.B. das erste eigenständige Jüdische Museumder Bundesrepublik Deutschland eröffnet, in Frankfurt/Main. Bertz und Rürup betten ihre Thesen in die politische Entwicklung - das Verschweigen und Verharmlosen des Nationalsozialismus im Mainstream bis weit in die 1980er Jahre hinein - und in die intellektuellen und historiografischen Debatten jener Jahrzehnte ein. Diese könnten auf einer Metaebene in «geistige Wiedergutmachung» in den 1960er-Jahren, die Versuche der Institutionalisierung der 1970er, die mitunter scharfen Deutungskonflikte der 1980er bis hin zur staatlichen Erinnerungspolitik der 1990er-Jahre grob unterteilt werden.
In der konfliktreichen Debatte in der jüdischen community selbst standen sich lange verschiedene Positionen dazu, ob man überhaupt und wenn ja, wie man in der Bundesrepublik als dem Land der Täter leben könne. Viele vertraten die Position, jüdische Geschichte solle vor allem im Ausland (USA; Israel, etc.) geschrieben, und z.B. Archivalien sollten dann nur dorthin gegeben werden. Eine weitere Debatte in der Forschung wie in Museen war die Frage, ob die Shoah und damit die Verfolgungsgeschichte im Mittelgrund stehen sollte, oder auch das «ganz normale» Leben der Juden und Jüdinnen in Deutschland jenseits der Shoah? Wäre es nicht eine Verharmlosung der deutschen Taten und Verbrechen, wenn über jüdisches Leben im Mittelalter oder frühen Neuzeit geforscht werden würde?
Zwei Service-Artikel beschließen das sehr interessante Heft. Gregor Horstkemper stellt digitale Angebote zur jüdischen Geschichte im deutschsprachigen Raum vor. Miriam Rürupnennt neue Literatur zu und damit auch neue Forschungsperspektiven auf die deutsch-jüdische Geschichte.
Inhaltsverzeichnis und weitere Informationen.
Jüdische Geschichte; Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 72 (2021), H. 7/8, Erhard Friedrich Verlag, Seelze 2021, 128 Seiten