Im kommenden Jahr jähren sich viele wichtige innenpolitische Ereignisse zum fünfzigsten Mal. 1972 steht für den Höhepunkt sozialdemokratisch-liberaler Reformpolitik, hier sei nur an den SPD-Wahlerfolg unter Willy Brandt, den größten der fast 160-jährigen Parteigeschichte, an die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes, die die Rechte der Betriebsräte spürbar stärkte und erstmals auch nichtdeutschen Beschäftigten ein aktives und passives Wahlrecht im Betrieb ermöglichte, und an den Grundlagenvertrag mit der DDR erinnert.
1972 steht aber auch für den «Radikalenbeschluss», wie ihn Jaeger und Bois im Unterschied zu anderen Begrifflichkeiten nennen, der eine systematische Überprüfung der «Verfassungstreue» für Beschäftigte im öffentlichen Dienst und in vielen Fällen Berufsverbote zur Folge hatte. Diese Praxis hatte gravierende Folgen für die DGB-Einzelgewerkschaften, ganz besonders für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), waren doch vor allem Lehrer:innen und Hochschullehrer:innen vom Radikalenbeschluss betroffen. Die GEW und andere DGB-Gewerkschaften standen dem Radikalenbeschluss kritisch gegenüber und unterstützten vielfach die von ihm betroffenen Kolleg:innen. Gleichzeitig setzten die IG Metall und der DGB, in der Folge dann auch die GEW, aber auch auf eine Abgrenzung gegenüber einigen kommunistischen Gruppen, wobei der DGB 1973 einen seit 1968 bestehenden «Unvereinbarkeitsbeschluss» gegenüber der NPD auf bestimmte linke Gruppen ausweitete. Gewerkschaftsausschlüsse, verweigerte Mitgliederaufnahmen, fehlender Rechtschutz in arbeitsrechtlichen Konflikten und Funktionsverbote waren die Folge.
Rezension zu
Alexandra Jaeger: Abgrenzungen und Ausschlüsse. Die Unvereinbarkeitsbeschlüsse in der GEW Hamburg in den 1970er Jahren, Weinheim 2020, 19,95 EUR
Marcel Bois: Von den Grenzen der Toleranz. Die Unvereinbarkeitsbeschlüsse der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft gegen Kommunistinnen und Kommunisten in den eigenen Reihen [1974-1980], Weinheim 2021, 24,95 EUR
Zuerst erschienen in Sozialismus, Heft 10/21, VSA-Verlag Hamburg. Volltext im PDF.