Nachricht | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Westasien - Türkei - Westasien im Fokus Das türkische Dilemma

Die Lira stürzt weiter ab. Axel Gehring über die Wirtschafts- und Währungskrise der Türkei

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Axel Gehring,

Alte Banknote über eine Million türkische Lira
Alte Banknote über eine Million türkische Lira: Vor der Währungsumstellung 2005 hatten drei Jahrzehnte Inflation zu einem extremen Wertverfall der Währung geführt. CC BY-NC-ND 2.0, Veronica Aguilar / flickr

Während hierzulande bereits eine Inflationsrate von aktuell fünf Prozent für Unruhe sorgt, beträgt sie in der Türkei derzeit fast 20 Prozent. Noch schlimmer steht es um die türkische Währung, die Lira: Lag ihr Wechselkurs zum US-Dollar vor zehn Jahren noch unter 1:2, liegt dieser heute bei 1:13; vor Jahresfrist hatte er noch 1:8,5 betragen. Damit erlebt die Türkei bereits zum zweiten Mal seit 2018 einen tiefen Absturz der Lira.

Vor drei Jahren war der Anlass des Währungscrashs, dass US-Präsident Donald Trump auf den Hausarrest eines US-amerikanischen Pastors in der Türkei mit der Ankündigung reagierte, die Zölle auf Stahl- und Aluminiumimporte aus der Türkei zu verdoppeln, woraufhin die Lira binnen kürzester Zeit um 20 Prozent absackte. Seither hat sich die Währung nicht wirklich erholt, sondern ist im Gegenteil immer weiter gefallen. Am 23. November des Jahres brach der Wechselkurs der Lira nun erneut ein, nachdem Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine umstrittene Senkung der Leitzinsen von 16 auf 15 Prozent durchgesetzt hatte. Erdoğan hatte zuletzt seinen Einfluss auf die türkische Zentralbank immer weiter ausgebaut und nacheinander mehrere Notenbankchefs, die seinem Kurs niedriger Zinsen nicht folgen mochten, entlassen.

Gleichwohl liegen die tieferen Ursachen des dramatischen Währungsverfalls nicht in derartigen Auswüchsen der autokratischen Interventionen in die Finanzpolitik, sondern in der türkischen Wirtschaftspolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte: Das ökonomische Wachstumsmodell ist an seine Grenzen gestoßen, und damit verringern sich auch die Möglichkeiten der Währungspolitik.

Neoliberalismus à la AKP

Dr. Axel Gehring ist Politikwissenschaftler und Referent für Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er arbeitet zur Politischen Ökonomie, zur Hegemonie- und Staatstheorie sowie zur europäischen Integration und ihrer Außenpolitik; weitere Schwerpunkte liegen in der Friedens- und Sicherheitspolitik im mediterranen Raum. 2019 veröffentlichte er eine umfassende Monografie zur Geschichte der Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union.

Die AKP-Regierung verfolgte seit ihrem Machtantritt 2003 im Grundsatz die gleiche Wirtschaftspolitik wie ihre Vorgängerregierungen. Zu Beginn ihrer Regierungszeit hatte sie von diesen die Politik der mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) vereinbarten «Strukturanpassung» übernommen und bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Jahre 2007 fortgesetzt.

Damit war die von einer umfassenden Privatisierungswelle begleitete AKP-Politik anfangs durchaus erfolgreich: Ein ausgeglichener Haushalt und «entpolitisierte» Institutionen – wie eine unabhängige Zentralbank – schufen internationales Vertrauen in die Türkei als Anlageort, ein hohes Zinsniveau zog ausländisches Kapital an und stabilisierte den Kurs der Lira. Das Wirtschaftswachstum wurde allerdings vom Konsum und von der Bauindustrie getragen; eine Modernisierung und ein Ausbau der türkischen Industrie gelangen kaum. Deshalb musste die Türkei weiterhin mehr importieren, als sie produzierte. Mit dem steigenden Wachstum stiegen daher auch die Defizite in der Leistungsbilanz, die durch Kapitalimporte ausgeglichen werden mussten.

Im Ergebnis kam es zu immer neuen Privatisierungen und zahlreichen Public-Private-Partnership-Projekten – wie etwa der defizitären dritten Bosporus-Brücke. Da die AKP keine Alternative zu ihrer extrem «investorenfreundlichen» Politik anbieten konnte, musste sie diese bereits repressiv durchsetzen, bevor das Land international negative Schlagzeilen machte. Seither potenzieren sich die Probleme der Public-Private-Partnership-Projekte. Schon vor der Corona-Krise wurde beispielsweise der auf jährlich 150 Millionen Passagiere ausgelegte neue Flughafen in Istanbul schlecht angenommen; die Bauarbeiten an einem Kanal westlich von Istanbul leiden ebenfalls unter den zweifelhaften ökonomischen Aussichten des Projektes.

Bereits seit der Weltwirtschaftskrise von 2007-09 war der Investitionszufluss in die Türkei kein Selbstläufer mehr. Die türkische Regierung betrachtete nun ihrerseits den orthodoxen Neoliberalismus nicht mehr als Grundlage anhaltenden Wirtschaftswachstums und verzichtete – zuweilen entgegen dem Willen der großen Holdinggesellschaften – auf ein weiteres Abkommen mit dem IWF. Sie fürchtete, dass eine Fortsetzung der IWF-Programme unter den veränderten Voraussetzungen zur Deflation führen würde, und setzte deshalb auf Großprojekte, um Anlagemöglichkeiten für privates Kapital zu schaffen. Auf stagnierende Nachfrage und sinkende Profite reagierte man mit Zinssenkungen. Dafür nahm die Regierung spätestens seit Beginn der 2010er-Jahre ein Sinken des Wechselkurses der Lira bewusst in Kauf.

Erdoğans neues wirtschaftspolitisches Leitbild war eine expansiv-neoliberale Politik, die auf niedrigen Zinsen beruhte; sie wurde in Form zahlreicher Infrastrukturprojekte buchstäblich in Stein gegossen. Damit entwickelte die AKP gewissermaßen eine rechte Alternative zum Neoliberalismus des IWF. Da sie diese durch eine klientelistische Sozialpolitik ergänzte, führte die AKP-Politik nicht unmittelbar zu Verschlechterungen für alle Bürger*innen, sie trug aber massiv zur gesellschaftlichen Polarisierung und Kulturalisierung ökonomischer Konflikte bei.

Erdoğan, der inzwischen nicht länger Ministerpräsident, sondern im Zuge des Staatsumbaus Präsident geworden war, inszenierte sich als charismatischer Führer. Indem er immer mehr politische Macht in seinen Händen konzentrierte, konnte er sich auch über die orthodox-neoliberale Bürokratie hinwegsetzen. Der populistische Antibürokratismus von rechts entfaltete auf diese Weise ein stark despotisches Moment. Eine wichtige Folge war der Anstieg der Inflation. Angesichts der repressiv-antigewerkschaftlichen Regierungspolitik konnten die Lohnarbeitenden dem wenig entgegensetzen und kaum reale Lohnerhöhungen durchsetzen.

Strukturelle Ursachen der Krise

Die türkische Währungs- und Wirtschaftskrise lässt sich auf zwei grundlegende Probleme zurückführen: Erstens gibt es seit längerem Sättigungserscheinungen in wichtigen Branchen wie beispielsweise der Bauindustrie, das heißt auf den Märkten werden nicht mehr alle Produkte und Dienstleistungen nachgefragt, es entstehen Überkapazitäten. Zweitens kommt es zu hohen Handelsbilanzdefiziten, die aus der importabhängigen Struktur der türkischen Wirtschaft resultieren. Insbesondere in Boom-Zeiten wachsen die Defizite der Zahlungsbilanz überproportional.

In profitablen Märkten machen sich Handelsbilanzdefizite kaum bemerkbar, weil sie ausländische Investitionen anziehen, die die Defizite ausgleichen. Mit dem Sättigungsproblem geriet dieser Mechanismus jedoch seit den späten 2000er-Jahren zusehends ins Stocken. Die AKP reagierte mit einer ausgeprägt politisierten, expansiv neoliberalen Politik. So konnte sie für einen relativ langen Zeitraum das Profitabilitätsproblem überbrücken – allerdings um den Preis einer hohen Inflation und eines seit Jahren sinkenden Wechselkurses.

Der Wechselkurs wurde auch deshalb zur Achillesferse, weil die Netto-Privatverschuldung der Türkei bis 2018 auf über 200 Milliarden US-Dollar und die Bruttoverschuldung des Landes auf mehr als 460 Milliarden US-Dollar anstieg. Das war ein Ergebnis der Expansion der Finanzwirtschaft seit den 2000er Jahren. In diesen Jahren ökonomischer Expansion und stabiler Wechselkurse hatten nicht nur Unternehmen, sondern auch immer mehr Türk*innen Kredite in ausländischen Währungen aufgenommen. Mit dem Währungsverfall der 2010er-Jahre stiegen ihre Kreditkosten immens an. Das dämpfte seit 2018 auch die weitere Kreditvergabe in Fremdwährung, denn sie galt als besonders riskant.

Dennoch wurde die Tendenz einer «Dollarisierung» der türkischen Währung kaum gebremst. Geschäfte werden immer häufiger in Dollar abgewickelt, und etwas mehr als die Hälfte aller Einlagen ist in Dollar angelegt, um sich gegen den Kursverfall der Lira zu schützen. So verbleibt als wichtigste Bremse der Dollarisierung der begrenzte und ungleiche Zugang zum US-Dollar, was wiederum die soziale Polarisierung zwischen den Klassen verschärft. Exporterlöse, Tourismuseinahmen und Geldüberweisungen von Verwandten aus dem Ausland bilden wichtige Devisenquellen. Die ersteren beiden sind im Kontext der Coronakrise zunächst scharf eingebrochen, um dann deutlich unsteter zurückzukehren. Dies hat Präsident Erdoğan nicht davon abgehalten, vor ein paar Tagen in einem Tweet zu erklären, dass die jetzige Lira-Krise die Bevölkerung durch die große Verbreitung des Dollars viel weniger treffe als die Krisen früherer Jahre. Die Äußerung ist bizarr, doch wahrscheinlich wird innerhalb der türkischen Führung tatsächlich darüber spekuliert, wie widerstandsfähig die Dollarisierung (und Euroisierung) die Bevölkerung gegen externe Schocks macht – denn die zur Verfügung stehenden währungspolitischen Instrumente sind begrenzt und jedes einzelne ist mit erheblichen Risiken und Nebenwirkungen verbunden.

Im wirtschaftspolitischen Zangengriff

Doch wie genau sieht die Bearbeitung der lang andauernden Lira-Krise aus? Indem die Zentralbank unter dem Druck akuter Währungskrisen zuletzt dem monetaristischen Paradigma folgte und die Zinsen erhöhte, versuchte sie die türkische Wirtschaft in die Lage zu versetzen, ihre Fremdwährungskredite zu bedienen, Devisen ins Land zu locken und das Rating der Türkei insgesamt zu verbessern. Dies kommt den Interessen jener Unternehmen entgegen, die unmittelbar in globale Kapital- und Warenkreisläufe eingebunden sind.

Hohe Zinsen bedeuten jedoch für jene Unternehmen, die primär auf dem türkischen Markt agieren, steigende Finanzierungskosten und dämpfen die Binnenkonjunktur. Daher besteht ein erheblicher politischer Druck auf die Zentralbank, die Zinsen möglichst niedrig halten. Insbesondere der Präsident übt Einfluss in Richtung einer Niedrigzinspolitik aus – die Präsidialverfassung erlaubt es ihm, direkt in Berufungsangelegenheiten der Zentralbank einzugreifen. In den letzten Krisenjahren hat er davon häufig Gebrauch gemacht, die geldpolitischen Entscheidungen der Zentralbank lesen sich wie ein Tagebuch seiner personalpolitischen Interventionen.

Um dieses Pendeln zwischen den beiden währungspolitischen Polen möglichst zu minimieren, hat die Zentralbank über Jahre versucht, mit Swapgeschäften und Devisenverkäufen den Lira-Kurs zu stabilisieren. Während erstere als Währungstauschgeschäfte nur kurzfristig den Kurs stützen, haben sich die Devisenreserven weitgehend erschöpft. Daher konnte die Zentralbank zuletzt auch nicht mehr gegensteuern.

Es erweist sich nun, dass der Finanz- eine vielfach verzögerte Wirtschaftskrise zugrunde liegt. Nicht zuletzt aufgrund der Inflation fließen die ausländischen Investitionen nicht mehr so stetig ins Land, wie noch in den 2000er-Jahren. Auch deshalb gelingt es immer weniger, die Lira zu stabilisieren – ein Teufelskreis.

Erste Proteste

Im Gegensatz zu 2018 kam es beim jüngsten Lira-Crash in einigen Städten zu spontanen Kundgebungen, die – wie 2013 während der Gezi-Revolte in Istanbul – den Rücktritt der Regierung forderten. Zu einer breiteren gesellschaftlichen Mobilisierung ist es bislang jedoch nicht gekommen. Dass die Proteste, die von kleineren sozialistischen Parteien – wie der TİP, der TÖP oder der SYKP – und Studierenden getragen werden, überhaupt stattfinden, ist angesichts des innenpolitisch repressiven Klimas aber bereits bemerkenswert.

Die AKP muss derzeit fürchten, bei nächster Gelegenheit für die krisenhafte Entwicklung abgestraft zu werden. Schon deshalb ist es fraglich, ob sie mit vorgezogenen Neuwahlen reagiert. Aber auch der parlamentarischen Opposition dürfte es schwerfallen, eine alternative Regierungspolitik zu formulieren und gegen die Widerstände der herrschenden Klassen umzusetzen.

Während die MHP als Verbündete der AKP Mitverantwortung für die aktuelle Situation trägt, ist von den neoliberalen Abspaltungen beider Parteien (İYİ, Gelecek und DEVA) kaum eine Abkehr vom neoliberalen Paradigma zu erwarten. Dabei steckt nicht nur die Wirtschaftspolitik der AKP, sondern das neoliberale Modell selbst in einer tiefen Krise. Die Türkei befindet sich in einer Zwickmühle: Für welchen Kurs sie sich auch entscheidet, seien es hohe oder niedrige Zinsen, stehen schwere wirtschaftliche und soziale Verwerfungen ins Haus.

Einen Ausbruch aus dem Dilemma verspricht allenfalls ein qualitativer Umbau der Ökonomie. Insgeheim sind die meisten politischen Akteure sich dessen auch bewusst, doch fehlt ihnen bislang die Kraft, sich mit den herrschenden Klassen anzulegen, die kaum bereit sein dürften, die Transformationskosten einer solchen Umgestaltung zu tragen.

In diesem Dilemma gefangen ist auch die Opposition, einschließlich der linken HDP. Deren oft einsam geführter Kampf gegen den wachsenden Autoritarismus der Regierung band in den letzten Jahren erhebliche – gerade auch konzeptionelle – Ressourcen. Jetzt rächt es sich, dass auch die HDP nicht über eine reale wirtschaftspolitische Alternative verfügt. Das ist gerade deshalb ein Problem, weil die Krise – die breite Teile der Bevölkerung einem Prozess existenzieller Verarmung und Verelendung unterwirft – zur Achillesferse des Erdoğan-Regimes geworden ist. Das Potenzial für weitere Proteste ist also durchaus vorhanden; ob sie zustande kommen, hängt aber wesentlich davon ab, ob es gelingt, der sozialen Frage innerhalb der Oppositionspolitik stärkeren Raum zu geben.

Die bislang spärlichen Proteste sprechen indessen auch für die Wirksamkeit der Repressionsstrategie der AKP. Trotz aller Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik ist es ihr immer wieder gelungen, die Bildung einer artikulationsfähigen Opposition zu unterbinden. Und sollten die Proteste sich ausbreiten, verfügt die Partei mit der weiteren Militarisierung der kurdischen Frage über eine «bewährte» Option, diese zu unterbinden.