Dass George Orwell in den Kanon linker Literatur gehört, ist Konsens, wobei landläufig immer auf Farm der Tiere und 1984 verwiesen wird, gelegentlich auch Mein Katalonien. Auch der Rezensent hat diese Bücher und frühere Werke Orwells in seiner Jugend verschlungen, aber bis auf 1984 nur einmal, die Erinnerung an sie ist nur noch verschwommen. Umso überraschender und aufschlussreicher war die Lektüre dieses Bandes: Dass Orwells Werke – die Romane, Erzählungen und Essays – allerdings von Beginn an «systematisch auf Erkenntnis ausgerichtet» sind, sie in «Form und Inhalt» «hochkomplex multiperspektivisch angelegt» sind, und zudem auf Erfahrung basieren, die zugleich bei der Leserschaft bewirkt werden soll – dies ist Gegenstand der vorliegenden, äußerst erkenntnisbringenden, sehr gut formulierten und höchst plausibel durchkomponierten Arbeit.
Orwells vermeintlich einfache Sprache und Stil erweisen sich als Ergebnis langjähriger intensiver Auseinandersetzung und Entwicklung des Autors. Zugleich leistet der Band eine tiefreichende Auseinandersetzung mit der relevanten Sekundärliteratur zu Orwell und den maßgeblichen Biographien der letzten Jahrzehnte.
Die Kritik an Orwells Schreiben klafft weiter auseinander. Vor allem seine autobiographisch motivierten Texte im Kontext des britischen Kolonialismus werden von einigen Autoren als wenig originell, misslungen, unwahrhaft, wenn nicht unglaubwürdig kritisiert. Angeloch weist diese Bewertungen und Kritik als inadäquat und den Gegenstand nicht erfassend zurück. Im Gegensatz zu diesen Positionen werden Orwells Leben und Werk in diesem Buch in ihrer Zusammengehörigkeit intensiv analysiert, der Autor verfährt in seiner Darstellung der literarischen Arbeit chronologisch. Die eingangs genannten Werke erweisen sich dann nicht als singuläre Meisterwerke, die am Ende eines Lebens entstanden sind, sondern sind das Resultat einer langjährigen Auseinandersetzung Orwells mit Fragen von Wahrnehmung, Erfahrung und Erinnerung, Realität und Kritik sowie mit Wahrheit und Ideologiekritik. Orwell ist ein exzellenter Beobachter und er wird im Verlaufe seines Schaffens immer besser, diese in Texte zu gießen, deren Konstruktion raffiniert die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Realität in lesbare Sprache ermöglicht. Es besteht eben gerade kein Bruch zwischen diesen und den früheren Werken, wie der Autor überzeugend herausarbeitet, weshalb die Spätwerke auch erst am Ende auf rund 30 Seiten Gegenstand der Abhandlung werden.
Das Buch ist Anlass, Orwell mit ganz neuen Einsichten zu lesen, am besten, wie der Autor kritisch gleich zu Beginn ausführt, in der Originalsprache, denn die deutschsprachigen Übersetzungen sind nicht wirklich brauchbar. Bei Orwell gibt es noch viel zu entdecken (und zu lernen), was die Lektüre dieses wertvollen Buches eindrucksvoll vor Augen führt.
Dominic Angeloch: Die Wahrheit schreiben. George Orwell: Entwicklung und Methode seines Erzählens; Edition Tiamat, Berlin 2022, 392 Seiten, 28 EUR