Kommentar | Parteien / Wahlanalysen - UK / Irland Der «Urlaub von der Realität» ist vorbei

Rishi Sunak soll nun die britischen Konservativen retten

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Florian Weis,

"Ready for Rishi?" - Plakatwand in London, 24.10.2022
Kehrt jetzt etwas Ruhe ein? Rishi Sunak dürfte für die Konservativen der relativ beste und gleichzeitig letzte Versuch sein, ein Wahldebakel abzuwenden. Plakatwand in London, 24.10.2022, picture alliance / Cover Images | Cover Images

Annähernd 100 Jahre besteht das 1922-Committee nun. Es vereint in Regierungszeiten alle konservativen Abgeordneten, die keine Regierungsposten innehaben, also jene, die Backbencher (Hinterbänkler) genannt werden. Einflussreich war das Komitee des Öfteren. Kaum ein Vorsitzender des 1922-Committee hat jedoch so viel Aufmerksamkeit bekommen, wie Graham Brady, der das Gremium seit 2010 leitet. Nach mehr als sechs turbulenten Jahren gehört Brady zu einem der bekanntesten Gesichter der politischen Szene in Westminister. Bereits zum vierten Mal in dieser kurzen Zeit organisiert sein Komitee nun die Neuwahlen der Parteiführung. Zwei weitere Male überwachte Brady Misstrauensvoten konservativer Abgeordneter gegen Theresa May (2018) und Boris Johnson (2022). May und Johnson überstanden diese zunächst, mussten aber wenige Monate später zurücktreten. Den Rücktritt legte Brady am 20. Oktober auch Liz Truss nahe, womit ihre Regierungszeit nach nur sechs rekordträchtig kurzen Wochen endete.

Florian Weis ist Historiker und Referent für Demokratie und Migration bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Nach dem langwierigen und komplizierten Auswahlverfahren im Juli und August 2022 setzte Brady diesmal eine hohe Hürde: 100 konservative Unterhausabgeordnete, mehr als ein Viertel der Fraktion, waren  nötig, damit es eine Bewerberin oder ein Bewerber in die nächste Runde schaffte. Entsprechend verzichteten die Stars des besonders rechten Parteiflügels, die gerade zurückgetretene Innenministerin Suella Bravermann und ihre vormalige Kabinettkollegin Kemi Badenoch, auf eine Bewerbung. Übrig blieben nur Penny Mordaunt (49), im Juli noch Dritte des Bewerber*innenfeldes, der frühere Schatzkanzler und damalige Zweite Rishi Sunak (42) – und Boris Johnson (58). Dieser hatte sich eine Hintertür für ein Comeback offen gehalten und eilte vorzeitig aus dem Karibik-Urlaub zurück, musste am 23. Oktober aber einsehen, dass er die Hürde von 100 Unterstützer*innen gerade so überspringen, dann aber die konservative Fraktion zerreißen würde. Selbst eine Reihe früherer Johnson-Fans und fanatischer Brexit-Befürworter*innen signalisierten daher, dass sie diesmal Sunak unterstützen würden: Auch Drama-faszinierte Hardliner brauchen nach drei Jahren mit Boris Johnson und sechs Wochen mit Liz Truss etwas Ruhe. Diese soll Rishi Sunak ausstrahlen. Penny Mordaunt war bereits im Bewerber*innenfeld des Sommers diejenige Kandidatin, die zwar flotte Postings verschickte, jedoch nicht auf eine klare Position, Haltung oder Linie festzulegen war. Im gegenwärtigen Chaos reicht das als Qualifikation nicht aus.  

Da nur Rishi Sunak eine ausreichende Unterstützung aus der Unterhausfraktion bekam, unterbleibt eine Mitgliederabstimmung diesmal. Kurzfristig ist die Einsicht bei den Konservativen vorhanden, dass sie sich keine weiteren Eklats mehr leisten können, wenn sie nicht bei den nächsten Unterhauswahlen ein ähnliches Debakel wie 1997 und 2001 gegen Tony Blair erleben wollen. Sunak übernimmt damit weniger als eine Woche nach dem Aus von Liz Truss das Amt des Premierministers.

Kein Grund zur Schadenfreude: Großbritannien steckt in einer tiefen Dauerkrise

Mehr als sieben schrille, populistische und chaotische Jahre liegen hinter Großbritannien und Nordirland, für die die vorherigen radikalen Austeritätsjahre unter David Cameron und George Osborne den Boden bereitet haben. Die Brexit-Kampagne 2016 hat das Land gespalten und die politische Atmosphäre gefährlich aufgeheizt. Vergessen wir nicht die Morde an Jo Cox (Labour, 2016) und, etwas anders gelagert, David Amess (Konservative, 2021). Boris Johnsons großer Wahlsieg im Dezember 2019 war ein Ausdruck dieser populistischen Aufladung. Zu linker Schadenfreude über das konservative Chaos besteht freilich wenig Anlass, denn die Mehrheit der Menschen, darunter auch manche, die 2019 Johnson gewählt haben, bezahlen einen bitteren Preis für den Niedergang konservativer Politik. Paradoxer Weise haben die Finanzmärkte ihren Anteil am Sturz von Liz Truss und ihres ebenso marktradikalen Schatzkanzlers Kwasi Kwarteng. Truss und Kwarteng hofften auf ein «Singapur an der Themse», ein Niedrigsteuerland mit geringer staatlicher Intervention und niedrigen Sozial- und Arbeitsstandards als Einlösung der Brexit-Verheißung. Sie versuchten sich sowohl von der konservativ-orthodoxen Finanzpolitik Rishi Sunaks als letztlich auch von einer stärker staatsinterventionistischen Linie, wie sie zuweilen Boris Johnson und beharrlich Michael Gove vertreten haben, abzusetzen. Gove hatte im Sommer die Steuersenkungspolitik von Truss treffend als «Urlaub von der Realität» bezeichnet. Der Urlaub war teuer und ist nun vorbei.  

Truss sah sich als legitime Erbin von Margaret Thatcher, doch mangelte es ihr an deren Härte, Durchhaltevermögen und taktischem Geschick. Zudem haben sich die Zeitumstände geändert: Thatcher hatte frühzeitig auf eine marktradikale Politik und Philosophie gesetzt. Die Krisen der 1970er Jahre machten ihre Politik des radikalen Bruchs mit dem sozialstaatlichen Konsens der vorherigen Jahrzehnte für viele Menschen überzeugend. Thatcher errichtete eine neue Hegemonie, die bis in das letzte Jahrzehnt hinein Bestand hatte. Die Krisenzeiten ließen zuletzt große Zweifel an dieser Ideologie wachsen, gleichzeitig konnte sich bisher keine klare soziale Alternative durchsetzen. Das Versprechen einer stärker interventionistischen Politik bescherte den Tories 2019 ihr bestes Ergebnis seit Thatcher. Truss, so sehr sie vom Johnson-Flügel zunächst unterstützt wurde, stand für einen etwas anderen Kurs, der in kürzester Zeit komplett gescheitert ist. Großbritannien als stark deindustrialisiertes Land mit einem chronischen Leistungsbilanzdefizit ist besonders von den Kapitalmärkten abhängig, verstärkt noch durch die überragende Bedeutung des Finanzmarktplatzes London für die nationale Ökonomie.  

Truss ist nicht die erste Premierministerin, die unter massiven Druck der Finanzmärkte geriet, auch wenn dies nicht der alleinige Grund ihres Scheiterns ist. Labour unter Harold Wilson (1966/67), James Callaghan (1976) und Gordon Brown (ab 2008), die Konservativen unter John Major 1992 sind weitere Beispiele dafür, wie sehr «die Märkte» die Rechte demokratisch legitimierter Regierungen in gefährlicher Weise einschränkten. Doch niemand scheiterte so schnell und gründlich wie Liz Truss.

Rishi Sunak: Seriöser Vertreter eines wirtschaftsliberalen Konservativismus   

Mervyn King, der unter Tony Blair, Gordon Brown und David Cameron Gouverneur der Bank of Enland war, sagt den Brit*innen schwere Zeiten voraus, vielleicht härter noch als in den Cameron-Osborne-Jahren. Kings Position lassen von ihm keine radikalen sozialen Vorschläge erwarten, doch sind einige seiner Hinweise dennoch nachvollziehbar. Ihm zufolge müsste sich auch die britische Mittelschicht auf dauerhaft höhere Steuern und Hypotheken einstellen. Gleichzeitig, dies wäre ein deutlicher Unterschied zu den Austeritätsjahren, sollten bestimmte öffentliche Aufgaben und Leistungen ausgeweitet werden. Wer europäische Standards an Sozialausgaben und öffentlichen Ausgaben wolle, könne allerdings nicht amerikanische Steuersätze fordern.    

Rishi Sunak dürfte für die Konservativen der relativ beste und gleichzeitig letzte Versuch sein, ein Wahldebakel abzuwenden. Ob er auch für die breite Gruppe der Beschäftigten und kleinen Selbständigen die beste Lösung ist, muss bezweifelt werden. Sicherlich ist Sunak ein vergleichsweise seriöser und smarter Politiker, was nach den grotesken Jahren unter Johnson und Truss freilich auch kein Kunststück ist. Sunak warnte vor Liz Trusss abenteuerlichen Politik und sollte Recht behalten. Sein Agieren zu Beginn der Corona-Pandemie 2020 hat schlimmere wirtschaftliche und soziale Einbrüche verhindert. Doch macht all dies Sunak, den mit Abstand reichsten britischen Politiker, der noch zu Beginn seiner Zeit als Schatzkanzler ab 2019 eine US-Greencard besaß und – legale – Steuervermeidung zugunsten seiner indischen Ehefrau betrieb, nicht zu einem sozialkonservativen «One-Nation-Tory». Sunak stand bisher für eine traditionelle konservative Finanzpolitik. Sein Fokus liegt auf geringer Staatsverschuldung und mäßiger Besteuerung. Damit ist er weniger marktradikal als Truss und Kwarteng. Gleichzeitig gilt er als zurückhaltend, wenn es um eine höhere Besteuerung von Wohlhabenden zur Finanzierung des riesigen Investitionsstaus und der Armutsbekämpfung geht. Auch in ökologischer Hinsicht hat sich Sunak noch weniger hervorgetan als etwa Michael Gove oder selbst Boris Johnson, wobei er aber auch nicht in die antiökologische, kulturkämpferische Hysterie von Liz Truss, Kemi Badenoch oder Suella Braverman («Guardian-lesende, Tofu-essende Woke-Menschen») einstimmte.  

Mit Sunak wird erstmals eine Person of Colour und ein Hindu britischer Premierminister. Dies drückt eine durchaus bemerkenswerte Entwicklung der britischen Gesellschaft aus, die nicht voreilig als unbedeutend abgetan werden sollte. Sunak, wie auch andere konservative Spitzenpolitiker*innen wie Badenoch, Braverman, Patel, Zahawi und Javid, stehen für eine beachtliche Diversität an der Spitze der britischen Konservativen, jedoch in keiner Weise für eine inklusive und gar egalitäre Politik.  

Neuwahlen: Rechtlich nicht zwingend, demokratisch aber geboten

Die Konservativen regieren nun bereits seit zwölfeinhalb Jahren. Sunak ist der fünfte Premierminister in dieser Zeit, der vierte in den letzten sechseinhalb Jahren, und schon der dritte in der aktuellen Legislaturperiode. Wechsel im Premierministeramt während einer Wahlperiode sind nicht so ungewöhnlich, erinnert sei an die Wechsel von Harold Wilson zu James Callaghan (1976), von Margaret Thatcher zu John Major (1990) und von Tony Blair zu Gordon Brown (2007). Zwei Wechsel im Amt während einer Legislaturperiode sind aber sehr selten. Neuwahlen sind rechtlich nicht zwingend geboten, demokratisch aber naheliegend, wie selbst einige Konservative meinen. Sunak war bisher nicht als politischer Spieler wie etwa Boris Johnson bekannt. Rasche Neuwahlen, die mindestens ein Drittel der konservativen Abgeordneten den Job kosten könnten, erscheinen somit als unwahrscheinlich. Allerdings ist das Szenario nicht völlig auszuschließen, dass Sunak nach einer möglichen vorübergehenden Beruhigung der Lage das Risiko von Neuwahlen eingeht. Gordon Brown entschied sich 2007 gegen dieses Risiko  und hatte dann nach den tiefen Einbrüchen aufgrund der Finanzmarktkrise ab 2007/2008 bei den regulären Wahlen 2010 kaum eine Chance. John Major reizte 1992 die Wahlperiode ebenfalls aus und war damit überraschend erfolgreich, aber 1997 konnte ihn das gleiche Manöver nach achtzehn konservativen Regierungsjahren nicht mehr gegen Tony Blair retten. Rechtlich müssen die nächsten Wahlen spätestens im Januar 2025 erfolgen.       

Die Umfragen der letzten Woche, die in der Spitze einen Labour-Vorsprung von bis zu 37 Prozent vor den Tories auswiesen, sind stark überzeichnet und werden sich bis zu einer Wahl, wann immer sie kommt, stark relativieren. Nach all dem Chaos, Populismus und der Hysterie unter Boris Johnson und Liz Truss wäre alles andere als ein Umfragehoch selbst einer so übervorsichtig auftretenden und wenig mitreißenden Labour Party unter Keir Starmer höchst verwunderlich. Viele Menschen mögen eine vergleichsweise farblose Figur wie Starmer als beruhigende und verlässliche Alternative wertschätzen. Insofern ist der moderate Kurs der Labour-Führung, der die Partei seit fast elf Monaten in allen Umfragen führen lässt, nachvollziehbar und nach der schweren Niederlage bei den Wahlen im Dezember 2019 (rund 32 Prozent der Stimmen und nur 203 von 650 Mandaten) auch bislang leidlich erfolgreich. Bis zu diesem Punkt verlief daher die linke innerparteiliche und gewerkschaftliche Kritik an Starmer, so berechtigt einzelne Vorwürfe auch waren, etwa an der ängstlichen und unsolidarischen Distanzierung von Streikposten, in der Gesamteinschätzung der Lage ins Leere. Jetzt freilich, da mit Rishi Sunak ein ernstzunehmender Gegner die Regierung führen wird und die Lage des Landes sich drastisch verschlechtert, bedarf es eines größeren Mutes und vor allem positiver politischer Angebote von Starmer, wie sie die 2020 gegen ihn unterlegene Rebecca Long-Bailey einfordert.

Die Spielräume einer möglichen Labour-Regierung werden sehr begrenzt sein; umso wichtiger ist es, dass Labour klare Prioritäten zu Gunsten des Gesundheitswesens, der sozialen und ökonomischen Absicherung bedrohter Arbeitnehmer:innen und kleinen Firmen, der Armutsbekämpfung sowie einer green industrial revolution setzt. Deren Umsetzung wird lange Zeit benötigen und ihre Finanzierung auch den Mittelschichten einiges abverlangen. Eine Legislaturperiode wäre für eine Labour-Regierung angesichts dieser immensen Probleme bei weitem nicht ausreichend. Probleme wie etwa der Ausgleich des schroffen Süd-Nord-Gefälles in England, die schottischen Unabhängigkeitsbestrebungen, die Blockade in Nordirland und die schrittweise Wiederannäherung an die EU, stellen die Regierung vor immense Herausforderungen.  Vielleicht lohnt vor diesem Hintergrund ein Blick zurück in das Jahr 1945, als die Labour Party unter Clement Attlee die Wahlen deutlich gewann, ein durch den Krieg fast bankrottes und zerstörtes Land übernahm und dennoch radikale Wirtschafts- und Sozialreformen umsetzte, gleichzeitig aber den Menschen jahrelange Rationierungen und Einschränkungen zumuten musste.