Seit seiner Entstehung wurde Tourismus durch Medien begleitet, reflektiert, vorangetrieben und konstruiert. Der Alternativtourismus wurde als Bestandteil der Tourismusentwicklung nach 1945 in der Forschung bisher allerdings vernachlässigt, so Diana Wendland in der überarbeiteten und gekürzten Fassung ihrer 2018 an der Deutschen Sporthochschule in Kölneingereichten (mediengeschichtlichen) Dissertation. In ihrer Publikation untersucht sie die «Konstruktion und Entwicklung dem Tourismus des alternativen Milieus zugrundeliegenden, im alternativen Reiseführer entwickelten Symbolkonsums und der aus ihm folgenden touristischen Orientierung» (S. 40).
Zu Beginn skizziert Wendland die Geschichte verschiedener Reise- und Tourismustraditionen und der Reiseführer, die es bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts gab. Sie waren verbunden mit der bürgerlichen Vorstellung der Bildungs- und nicht etwa der Erholungsreise. Reiseführer, und auch die alternativen Reiseführer, sind milieuspezifische Medien, sie adressieren jeweils ein bestimmtes, halbwegs abgrenzbares Publikum.
In der Entwicklung des Tourismus lassen sich grob verschiedene Phasen unterscheiden. Die touristischen Basisinnovationen Eisenbahn, Pauschalreise und Reiseführer ermöglichten - zusammen mit einem steigenden Einkommen - immer mehr Menschen eine längere Reise. Begann in Deutschland die Phase von ersten Auslandsreisen bereits in den 1950er Jahren, kann von einem Massentourismus erst ab Ende der 1960er Jahre gesprochen werden, für den die Massenmobilisierung mittels privater PKW eine große Bedeutung hatte. Im Massentourismus spielte, was sich auch an Reisekatalogen zeigen lässt, nicht mehr die Bildung, sondern die Erholung, und noch mehr die Interaktion mit anderen TouristInnen eine immer größere Rolle. Zentral für (bürgerlichen) Tourismus sei das durch die dazugehörigen Reiseführer angeleitete Besuchen und «Sehen» bestimmter Orte oder Naturdenkmäler etc.
In der Phase des Massentourismus entstand in Verbindung mit dem alternativen Milieu der Alternativtourismus - und auch die dazu passenden Reiseführer. Die sind sowohl Mittel als auch Ergebnis des alternativen Tourismus. Wendlands Studie basiert auf 56 Reiseführern; von denen 40 zwischen 1976 und 1985 erschienen, 16 erst danach, fünf allerdings in erster Auflage vor 1975. Zu Beginn (in der so genannten Inkubationsphase) erschienen die alternativen Reiseführer im Selbstverlag. Danach, in der Verbreitungsphase, begannen die typischen Etablierungs- und Professionalisierungsschritte: Es entstehen Netzwerke, aus dem Hobby wird ein Beruf, es werden Absprachen zwischen verschiedenen AkteurInnen getroffen und Deutungskämpfe beginnen. Der Verein «Deutsche Zentrale für Globetrotter», der sich nur für außereuropäische(s) Reisen interessierte, wurde 1974 gegründet, hatte ein Jahr später 750 und 1985 bereits 1.200 Mitglieder. Ab circa 1985, als die Etablierungsphase begann, reagierten die etablierten Verlage auf den Trend, kopierten ihn oder kauften gar einzelne Ideen oder Leute auf.
Lifeseeing statt Sightseeing
Die zentralen Versprechen der alternativen Reiseführer sind zwei miteinander verbundene. Zum einen soll mit ihnen Zeit und Geld gespart werden. Ziel ist es, möglichst lange und trotzdem kostengünstig zu reisen, wobei viele so argumentieren, dass man durch die Lektüre des Reiseführers viel Zeit bei den Reisevorbereitungen spare.
Das zweite Ziel ist es, ein «authentisches Reisen» zu ermöglichen und zu gestalten, das bedeute auch, die normale, «bürgerliche» Form des Tourismus abzulehnen. Authentizitätsei, so Wendland in Anlehnung an das wichtige Buch des Historiker Sven Reichardt1, im alternativen Milieu ein Selbstzuschreibungs- und Reflexionsgriff gewesen, der individuelle und kollektive Aspekte umfasse (2). So schrieben zum Beispiele viele Autoren ihre Reiseführer so, als sei die Reise ein Abenteuer, wenn nicht eine Expedition gewesen. Wichtigstes Ziel dieses Tourismus war nicht Erholung, Bildung nur in zweiter Linie, sondern die Interaktion mit Einheimischen, diese zu treffen, an ihrem Leben teilzunehmen.
Allein, dass die untersuchten Reiseführer im Gegensatz zu den konventionellen, die keinen Autorennamen auf dem Umschlag hatten, sondern über ihre Reihe (der «Baedeker») funktionierten, namentlich gekennzeichnet waren, sei ein Authentizätsmarker gewesen. Noch mehr solcher Marker fanden sich im Innenteil der im Laufe der Jahre immer umfangreicher werdenden Bücher: So wurden auf den ebenfalls immer zahlreicher werdenden Bildern vor allem Einheimische, auch gerne Kinder, in als traditionell anzusehenden Situationen, Tiere durchweg nur in freier Wildbahn und auffallend oft Motive, die mit Mobilität zu tun hatten, dargestellt. Sie alle dienten dazu, nachzuweisen, dass der oder die AutorIn, der oder die oft selbst abgebildet wurde, wirklich vor Ort war, und in Interaktion mit BewohnerInnen des bereisten Landes getreten war. Es sei bei diesen Reisen, erst recht bei außereuropäischen Ländern und Regionen (Alaska, Subsahara, Asien, ...), um «Lifeseeing statt Sightseeing» gegangen.
Authentizität wurde, zumindest zu Beginn, auch durch die DIY-Herstellungsweise und den Selbstverlag produziert. Obwohl sich die AutorInnen der Reiseführer als alternativ ansahen, seien diese doch erstaunlich unpolitisch gewesen, seien in ihnen doch «kaum Ausführungen zu den politischen Situationen in den bereisten Ländern, beispielsweise zu Studentenprotesten oder zur Rolle linker Parteien» zu finden (S. 209).
Solche Reiseführer hatten in einer Zeit ohne Internet eine ganz andere Bedeutung als heute, sie waren wichtige Informationsquellen; zudem ist es faszinierend, durch die Lektüre des Buches in die dort verhandelte Zeit einzutauchen. Die Arbeit hat etliche Wiederholungen, was die Lektüre erschwert. Leider bleiben die konkreten Inhalte der untersuchten Reiseführer etwas blass. Als wichtigstes Ergebnis lässt sich festhalten, dass die untersuchten Reiseführer Ausdruck davon waren, dass sich der «romantic gaze» (romantische Blick) des «bürgerlichen» Tourismus auf neuer Stufe in ihnen fortsetzte (S. 205).
Diana Wendland: Alternative Reiseführer. Entstehung, Verbreitung und Professionalisierung von den 1970er bis zu den 1990er Jahren; Klartext Verlag, Essen 2021, 242 Seiten, 34,95 Euro
1 Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren; Berlin 2014.
Hinweis: Rüdiger Hachtmann: Tourismus und Tourismusgeschichte, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.12.2010