Interview | Soziale Bewegungen / Organisierung - Arbeit / Gewerkschaften - USA / Kanada - Gewerkschaftliche Kämpfe Kämpfen muss gelernt sein

Jane McAlevey spricht über die Notwendigkeit einer starken Gewerkschaftsbewegung in unserer krisengeschüttelten Welt.

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Jane McAlevey spricht während der Veranstaltung «Aus unseren Kämpfen lernen», der 4. Konferenz zur gewerkschaftlichen Erneuerung, organisiert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, 16.2.2019. Foto: Niels Schmidt

Es gibt nur wenige Persönlichkeiten in der Gewerkschaftsbewegung, die in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit erregt haben als Jane McAlevey. Die in Kalifornien lebende Gewerkschaftsorganizerin hat jahrzehntelang maßgeblich dazu beigetragen mächtige und effektive Gewerkschaften in einer Reihe von Sektoren aufzubauen. Darüber hinaus ist sie als Senior Policy Fellow an der University of California in Berkeley tätig und hat vier Bücher über Gewerkschaftsstrategien geschrieben, ganz zu schweigen von unzähligen Artikeln und einer regelmäßigen Kolumne in der US-amerikanischen Politikzeitschrift «The Nation».

Jane McAlevey ist seit über zwanzig Jahren als Organizerin und Verhandlungsführerin in der Gewerkschaftsbewegung tätig. Seit 2019 leitet sie das von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderte Trainingsprogramm «Organizing for Power».

Im Mittelpunkt von McAleveys Botschaft steht die Notwendigkeit für die Gewerkschaften, harte Organizing-Arbeit am Arbeitsplatz anzugehen. Sie argumentiert, dass die Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten zu selbstgefällig geworden sind und institutionellen Vereinbarungen, geschickter Öffentlichkeitsarbeit und Kampagneninstrumenten aus der NGO-Welt den Vorzug vor dem traditionellen Ansatz geben , einzelne Arbeitnehmer*innen für die Sache zu gewinnen und für die Anerkennung der Gewerkschaften in einzelnen Betrieben und Branchen zu kämpfen. Da die Macht der Arbeiter*innenbewegung in den meisten Industriestaaten weiter schwindet, ist ihrer Meinung nach der einzige gangbare Weg zu einem neuen Aufschwung der klassische Ansatz, der die institutionelle Stärke der Gewerkschaften in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erst möglich machte: Organizing.

Dieser Ansatz liegt auch McAleveys internationalem Trainingprogramm zugrunde, das sie zusammen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung entwickelte: «Organizing for Power» (O4P). Im vierten Jahr seines Bestehens hat O4P inzwischen Zehntausende von Arbeiter*innen und Organizer*innen in aller Welt ausgebildet und wird inzwischen in acht Sprachen auf sechs Kontinenten angeboten. Nach Abschluss ihres jüngsten Kurses «The Core Fundamentals» sprach Jane McAlevey mit Loren Balhorn von der Rosa-Luxemburg-Stiftung darüber, wie sie selbst zur Organizerin wurde, warum Gewerkschaften für den Kampf um eine bessere Welt unverzichtbar sind und wohin sich die Gewerkschaftsbewegung in den kommenden Jahren entwickeln wird.

Du bist seit über 30 Jahren im Organizing aktiv und forschst über Gewerkschaftsarbeit. Du hast vier Bücher geschrieben, und mehr erfolgreiche Kampagnen geführt als ich zählen kann. Mich würde interessieren: Wie hast Du Dich politisiert? Was hat Dich zur Gewerkschaftsbewegung und nicht etwa zu anderen Formen des Aktivismus geführt?

Bei uns zuhause gehörten Gewerkschaften dazu, wie in anderen US-amerikanischen Familien Apfelkuchen und die Flagge. Mein Vater wusste, dass er die Great Depression nur dank seiner Gewerkschaft, der «International Brotherhood of Boilermakers», überlebt hatte. Er hatte einen sehr typischen schottisch-irischen Einwanderungshintergrund. Seine Familie war Ende des 19. Jahrhunderts in die USA eingewandert. Sie waren Schreiner*innen, traten Gewerkschaften bei und führten Arbeitskämpfe, wie es sich für gute Linke gehörte.

Als ich geboren wurde, war mein Vater ein engagierter, kämpferischer Politiker in New York – ähnlich wie Bernie Sanders, würde ich sagen – und wurde von den Gewerkschaften ins Amt gebracht und im Amt gehalten. Als ich drei oder vier Jahre alt war, starb meine Mutter. Ich kann mir bis heute nicht vorstellen, wie er sich damals gefühlt haben muss, aber als kleines Mädchen war ich völlig ahnungslos – meine Mutter war nicht mehr da, und meine Geschwister waren in der Schule.

In jungem Alter wurde ich also von den Gewerkschaftsarbeiter*innen aufgenommen und aufgezogen. Als ich noch nicht zur Schule ging, nahm mich mein Vater zur Arbeit in der Schreinerhalle mit. Als Kind wurde ich also von seinen Sekretärinnen aufgezogen, gewerkschaftlich organisierten Angestellten des öffentlichen Dienstes, sowie von der «Brotherhood of Boilermakers» und der «Brotherhood of Carpenters». Ein paar Jahre später scherzte ich in der Schule, dass ich sechs richtige, aber gefühlt 400 Brüder hatte. Das hat mich sehr geprägt.

Bist du vor diesem Hintergrund nach dem Studium direkt in die Arbeiter*innenbewegung gegangen?

Ich habe mich zuerst in der Studierendenbewegung engagiert. Das war wichtig für mich, weil wir eine starke Studierendengewerkschaft hatten. Dort habe ich vor allem gelernt, was zu vermeiden ist: Ohne Plan sollten wir nicht streiken, sondern immer herausfinden, wer die Entscheidungen trifft und wie diese Personen unter Druck zu setzen sind.

Das habe ich auch in den Wahlkämpfen meines Vaters gelernt. Zu Hause hieß es immer: «Die greifen uns wegen dieser oder jener Maßnahme an. Wie können wir sie schlagen?» Ich saß einfach nur da und lernte durch Zuhören. Jahrelang habe ich das geleugnet, aber es ist ganz klar. Das war natürlich alles wichtig.

Die meisten wissen es nicht, aber bevor ich Gewerkschafterin wurde, war ich hauptberuflich in der Umweltbewegung aktiv. Sie wurde von People of Colour angeführt und drehte sich um das sogenannte «Right-To-Know»-Gesetz. 1988 durften die US-Amerikaner*innen zum ersten Mal eine Petition einreichen, um herauszufinden, welche Giftstoffe die Fabriken in ihrer Nachbarschaft in die Umwelt abgaben. Das war ein Wendepunkt, denn die Unternehmen vergifteten buchstäblich Schwarze und Braune Communities.

Wie hat diese Erfahrung Deine Einstellung geprägt?

Mit Anfang 20 arbeitete ich in den Südstaaten am «Highlander Research and Education Center» und in der «National Toxics Campaign». Ich wollte die Fabriken schließen lassen, die dabei waren, Schwarze Communities auszulöschen. Ich habe mit Tony Mazzochi zusammengearbeitet, dem Vorsitzenden der «Oil, Chemical and Atomic Workers International Union», einem wegweisenden Sozialisten, der leider viel zu früh gestorben ist. Er war der Erste, der den Begriff «gerechter Übergang» verwendete.

Gewerkschaften sind ein Labor, in dem wir lernen, Einheit herzustellen.

Als Gewerkschaftsführer in einem Wirtschaftszweig, der den Planeten besonders stark zerstört, verstand er als Erster, dass die Branche nicht reformiert werden konnte. Wenn wir den Planeten retten wollen, müssen wir diese Technologien abschaffen – das darf aber nicht auf dem Rücken der Kolleg*innen geschehen, sondern die Unternehmen müssen dafür bezahlen. Auf diesem Stand ist die Klimabewegung erst jetzt angelangt, 40 Jahre später.

Unter Mazzochis Einfluss habe ich mich der Gewerkschaftsbewegung angeschlossen. Die Rettung des Planeten lag mir am Herzen, aber dem Kapitalismus war ohne starke, von den Arbeiter*innen selbst geführte Gewerkschaften einfach nicht beizukommen. Um es deutlich zu sagen: Wir konnten die giftigen, umweltverschmutzenden Wirtschaftszweige nicht verändern, solange die Arbeiter*innen nicht selbst die Macht hatten, die Veränderungen einzufordern, die sie verdienen.

Du bist also durch Deine Erfahrungen in der Umweltbewegung zu dem Schluss gekommen, dass die Linke zuerst Gewerkschaften aufbauen muss?

Das habe ich von Tony Mazzochi gelernt. Wenn wir verstehen, dass der Kapitalismus im Wesentlichen nur eines braucht – Arbeit – und wir die Kontrolle darüber haben können, dann müssen wir die Arbeiter*innen dazu bringen, sich zusammenzuschließen, die Arbeit niederzulegen und den Betrieb lahmzulegen. Nur so können wir im kapitalistischen System Macht ausüben. Und damit meine ich nicht, dass ein paar Leute mit Plakaten auf die Straße gehen, sondern wirklich lahmlegen.

So können wir um die Macht in dieser angeblichen «Demokratie» kämpfen, die in Wirklichkeit ein demokratischer Kapitalismus ist. Wir können zwar wählen, aber in den USA werden die wichtigsten Wirtschaftsentscheidungen von derselben Wirtschaftselite getroffen, die auch den Kongress kontrolliert. Die Linke kann weiter auf kommunaler Ebene und in den Bundesstaaten Wahlen gewinnen. Doch wenn wir keine echte «Gestaltungsmacht», wie ich sie nenne, erringen, und damit meine ich starke Organisationen, die Politiker*innen zwingen, unsere Forderungen umzusetzen, dann werden sie am Ende eh vom Big Business kontrolliert.

Sich nicht mehr an Wahlen zu beteiligen, ist keine Alternative. Ich bin ein großer Fan von Wahlen, aber alleine wird das nicht funktionieren – wir brauchen auch Gestaltungsmacht. Das heißt, wir brauchen starke Gewerkschaften, die die Arbeit niederlegen und das politische Kräfteverhältnis zu unseren Gunsten verändern.

Gewerkschaften sind wichtig, um Menschen zusammenzubringen. Ich habe mein ganzes Leben lang mit People of Colour aus der Arbeiter*innenklasse zusammengearbeitet. Ich weiß, wie sehr Frauen of Colour in diesem Land unterdrückt werden. Es wird aber keine Lösung geben, wenn wir nicht herausfinden, wie und wo wir alle zusammenbringen können, sei es im Kampf ums Überleben, für Lebensqualität, für menschenwürdige Arbeit, Gesundheitsversorgung, Wohnraum oder sauberes Trinkwasser.

Gewerkschaften sind ein Labor, in dem wir lernen, Einheit herzustellen. Schließlich besteht die Arbeiter*innenklasse aus vielen ethnischen Gruppen. Wir müssen uns um gemeinsame Probleme kümmern. Es liegt nicht an der philippinischen Krankenpflegerin, dass der Lohn ihrer weißen Kollegin gesunken ist, auch wenn die das vielleicht denken möge. Es ist vielmehr die Schuld des Krankenhauseigentümers, der ihre Beschäftigten spaltet und zu wenig Lohn zahlt. Wenn wir wollen, dass philippinische, weiße und Schwarze Krankenpfleger*innen miteinander ins Gespräch kommen, müssen wir uns auf die Gemeinsamkeiten konzentrieren, auf Lohnhöhe und Personalschlüssel. Erst dann können wir auch andere historische Unterdrückungen ansprechen.

Kommen wir auf die US-amerikanischen Gewerkschaften zu sprechen, in denen Du hauptsächlich aktiv bist. Es gab zwar einige Lichtblicke, die Lehrer*innenstreiks in den letzten zehn Jahren etwa, aber insgesamt ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad in den USA so niedrig wie seit Menschengedenken nicht mehr. Du warst in den 1990er Jahren an gewerkschaftlichen «Erneuerungsinitiativen» beteiligt. Wie erklärst Du Dir den anhaltenden Niedergang? Lässt er sich aufhalten?

Die Antwort liegt im Titel meines Buches: «No Shortcuts. Organizing for Power in the New Gilded Age» [auf Deutsch erschienen als «Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing]. Als das Buch 2016 herauskam, habe ich auf den Untertitel bestanden. Der Begriff «Gilded Age», der das Aufblühen der US-Wirtschaft nach dem Sezessionskrieg bezeichnet, war strategisch wichtig. Ich wollte damit etwas ganz Bestimmtes ausdrücken: Wir leben wieder im Zeitalter der Räuberbarone, und wir müssen wieder kämpfen wie damals.

Ich habe im Vorstand der New Voice gearbeitet, die in den 1990er Jahren den US-Gewerkschaftsbund AFL-CIO übernommen hat, und ein paar Jahre lang haben wir großartige Arbeit geleistet. Es war eine aufregende Zeit: Wir haben das Organizing in den Betrieben vorangetrieben und die politische Struktur der gesamten Region verändert. Viele neue Arbeiter*innen an der Basis machten sich bewusst, dass sie Ämter übernehmen konnten. Aber sie wurden zu einer Bedrohung für die Machtstruktur der bundesweiten Gewerkschaft, und bald wurden die Mittel knapp.

Die Leute erheben sich nicht von allein, das können wir vergessen. Sie sind müde, erschöpft und niedergeschlagen. Die Leute sind wütend, aber wir müssen ihnen sagen, wie sie kämpfen und in welche Bahnen sie ihre Wut lenken können.

Das war also ein Faktor, das eherne Gesetz der Oligarchie. Die Gewerkschaften sagten: «Ja, wir wollen Organizing, aber nicht zu viel.» Die Erneuerungsbemühungen haben sich jedoch nicht auf Organizing gestützt, sondern beruhten auf Mobilisierung. Die Gewerkschaftsspitze stand damals stark unter dem Einfluss des Silicon Valley. Sie meinte, es reiche aus, wenn wir nur ein paar telegene Arbeiter*innen mit Megafonen vor die Fernsehkameras stellen. Es gibt das Wort «aktivieren» – das klingt so, als würde man eine Batterie in eine Person einlegen. In meiner Zeit bei der bundesweiten Gewerkschaft musste ich mir immer wieder anhören: «Wir müssen dieses Jahr einfach zwei Millionen Wähler*innen aktivieren.»

Darauf will ich mit «No Shortcuts» hinaus: Während die Gewerkschaftsspitzen Millionen für PR und «Mobilisierung» ausgeben und trotzdem nicht vorankommen, gibt es Hunderte Organizer*innen – ich nenne sie meine «Sippe» –, die mit Organizing Erfolge erzielen, indem sie sich auf die Arbeiter*innen einlassen. Die bundesweiten Gewerkschaften machen das nicht, die Chefs sind mit der Ausnahme von Sara Nelson [Vorsitzende der Gewerkschaft der Flugbegleiter*innen] allesamt nicht wirklich an Organizing interessiert.

Ich weiß nicht, ob ich das richtig verstehe. Was ist der Unterschied zwischen Organizing und Mobilisierung?

Mit mobilisierenden oder aktivistischen Ansätzen wollen Gewerkschaften Menschen, die bereits ihrer Meinung sind, zum Mitmachen bewegen. Das ist für viele verwirrend, denn es geht auch ums Mitmachen. Wenn wir bei einem Klimaprotest 5000 Menschen auf die Straße bringen, dann ist das toll! In der Stadt leben aber 10 Millionen. Ein schöner Erfolg, aber nicht genug. Und hier setzt Organizing an.

Organizing geht davon aus, dass die Menschen klug sind und mit der Zeit selbst verstehen, warum sie arm sind und Probleme haben. Wenn das der Fall ist, werden sie für sich selbst kämpfen. Wir Organizer*innen wollen so wenig wie möglich mit Leuten sprechen, die unsere Meinung teilen. Wir setzen auf politische Massenaufklärung und wollen vermitteln, dass nicht die migrantischen Arbeiter*innen an den miserablen Bedingungen schuld sind, sondern der Boss, der ihnen das Leben ruiniert.

Meine Mentor*innen haben mir etwas Wichtiges beigebracht: Die Arbeiter*innen hören täglich, sie seien dumm. Ihnen wurde eingeimpft, dass die Vorgesetzten nicht ohne Grund Vorgesetzte seien. Organizer*innen machen es sich zur Aufgabe, den Arbeiter*innen Vertrauen in sich selbst und in ihre Fähigkeiten zu geben, damit sie gegen ihre Arbeitgeber*innen vorgehen können. Das ist entscheidend – die Klasse kann nicht handeln, wenn sie glaubt, nicht handeln zu können.

Das habe ich als Kind gelernt. Wenn wir mit dem Auto unterwegs waren und mein Vater sah, wie eine Straßenbaukolonne im Regen einen Graben aushob, hielt er den Kombi an. Dann forderte er seine Passagiere auf, aussteigen, und sich bei den Arbeiter*innen für ihre Arbeit im Regen zu bedanken. Das war für mich grundlegend: Wir müssen den Arbeiter*innen den größten Respekt entgegenbringen. Wir müssen glauben, dass wir von Genies umgeben sind, dass eine Krankenpflegerin das Krankenhaus genauso gut leiten könnte wie jeder Manager oder jede Managerin.

Wie sieht Organizing konkret aus? Wie kann effektives Organizing gelingen?

Die Arbeiter*innen müssen in der Lage sein, eine – wie wir es nennen – «straffe» Struktur am Arbeitsplatz aufzubauen, indem sie die Arbeiter*innen identifizieren, denen die Kolleg*innen am meisten vertrauen, sogenannte «organische Führungsfiguren». Wir müssen uns darauf konzentrieren, sie ins Organizing einzubinden.

Sobald wir die organischen Führungsfiguren einbezogen haben, machen wir «Strukturtests». Das heißt, wir schicken diese Personen mit Zettel und Stift in ihre Betriebe, damit sie ihre Kolleg*innen bitten, sich für einen Streik anzumelden. Das Ziel ist eine supermajority oder «qualifizierte Mehrheit» – nicht nur 50, sondern 90 Prozent. Dann gehen wir durch die Abteilungen und stellen sicher, dass wir überall die absolute Mehrheit haben, und widmen uns den Bereichen, wo die organische Führung schwächer ist und sie vielleicht Unterstützung braucht.

Wie ich bereits sagte, schicken wir die Arbeiter*innen erst dann in den Streik, wenn die Zahlen stimmen und wir einen Plan haben, wie wir gewinnen können. Durch den Aufbau einer hohen Beteiligungsrate können wir erfolgreiche Massenstreiks und letztlich die Macht der Arbeiter*innenklasse aufbauen.

Kannst du aktuelle Arbeitskämpfe nennen, die auf diese Form des Organizing zurückgehen?

In Ontario gab es im vergangenen November einen beispiellosen Streik. Es war einer der dynamischsten seit Jahrzehnten. 55.000 Beschäftigte in den Bereichen Kinderbetreuung und frühe Erwachsenbildung haben gegen Haushaltskürzungen der rechten Regierung gestreikt, organisiert von der kanadischen Gewerkschaft für den öffentlichen Dienst. Die Organizer*innen, die den Streik anführten, hatten Kurse bei uns von Organizing for Power belegt. Seit meiner ersten Tätigkeit in Kanada arbeite ich mit ihnen zusammen.

Ich glaube nicht, dass die Streiks einfach aufhören werden. Die Frage ist: Werden wir lernen zu gewinnen?

Sie haben den ersten Generalstreik in Kanada seit fast 100 Jahren angeführt. Sie mussten den Streik bei der Regierung anmelden, weil die ein unglaublich drakonisches Anti-Streik-Gesetz verabschiedet hatte. Das neue Gesetz sah im Streikfall Geldstrafen von bis zu 500.000 Dollar pro Tag für die Gewerkschaft und bis zu 4.000 Dollar für die Beschäftigten vor. Das sind Arbeiter*innen, die im besten Fall 30.000 Dollar verdienen. Und sie haben trotz dieses Risikos die Arbeit niedergelegt.

Sie haben einen Generalstreik ausgerufen. Die Gewerkschaften der Provinz Ontario haben sich zusammengetan und gesagt: «Wenn ihr dieses Problem nicht löst, steht in einer Woche die ganze Provinz still.» Diese 55.000 Arbeiter*innen, darunter viele Immigrant*innen, haben den abscheulichsten und rechtesten Premierminister aller kanadischen Bundestaaten herausgefordert und geschlagen. Er hob das Gesetz binnen weniger Tage auf, und sie bekamen zwar keinen außergewöhnlichen, aber immerhin einen guten Tarifabschluss.

Es muss Dich wahnsinnig freuen, wenn die von euch ausgebildeten Organizer*innen tatsächlich gewinnen.

In der Tat, das ist sehr erfreulich, aber vor allem für sie! Endlich haben wir einmal gewonnen!

Das frustriert mich bei Teilen der Linken wirklich. Die Leute erheben sich nicht von allein, das können wir vergessen. Sie sind müde, erschöpft und niedergeschlagen. Die Leute sind wütend, aber wir müssen ihnen sagen, wie sie kämpfen und in welche Bahnen sie ihre Wut lenken können. Manche sagen, ich lehre ein «Top-down»-Modell, aber das Gegenteil ist der Fall. Ich habe Organizer*innen nie etwas gesagt, was ich nicht auch einem beliebigen von der Kampagne betroffenen Arbeiter oder einer beliebigen betroffenen Arbeiterin gesagt hätte.

Schau dir mal den Widerstand in der Ukraine an: Sie haben da ein stehendes Heer und erfahrene Expert*innen, die die Freiwilligen für den Kampf ausbilden müssen. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Analogie so stimmt, aber ich verstehe meine Sippe von Organizer*innen als das stehende Heer, die Expert*innen, die sehr geschickt sind und die Rekruten aus der Bevölkerung im Kampf ausbilden müssen. Beim Klassenkampf verhält es sich genauso.

Du hast Organizing for Power angesprochen, die weltweite Trainingsreihe für Gewerkschaftsorganizer*innen, die Du seit einigen Jahren zusammen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung durchführst. Inwieweit lassen sich die Methoden, die Du in den USA entwickelt hast, auf internationale Kontexte übertragen? Braucht jedes Land oder jede Kultur einen eigenen Organizing-Ansatz?

Als ich 2019 zum ersten Mal in diese globalen Trainings hineingezogen wurde, habe ich mich nicht sehr wohlgefühlt, weil ich als Weiße aus den USA ein Schulungsprogramm für Menschen aus anderen Teilen der Welt leiten sollte. Im Training saßen Leute von der National Union of Metalworkers of South Africa, die an Revolutionen teilgenommen hatten, über die ich in den 1980er Jahren gelesen hatte, und ich dachte: «Wirklich, wir bilden die NUMSA aus?»

Ich hatte 2013 erfolgreich mit der Communication Workers’ Union in Irland gearbeitet und wusste daher, dass die Strategie auch in anderen Ländern funktionieren konnte. Aber ging das auch im Globalen Süden? In ganz anderen Kulturen? In Lateinamerika etwa oder in Afrika?

Ich habe jedenfalls lange gezögert, aber der Kapitalismus ist nun einmal global und exportiert die gleichen gewerkschaftsfeindlichen Methoden in alle Länder. Wir können diesen Kampf nur mit einer globalen Bewegung gewinnen. Wir werden diesen Kampf nicht von Europa und Nordamerika aus gewinnen. Wir werden ihn in Afrika gewinnen und überall dort, wo sich ein gewisses Maß an Kapitalismus etabliert hat.

Von dort kommen die Programmteilnehmer*innen. Viele brasilianische Organizer*innen und kolumbianische Callcenter-Arbeiter*innen konnten wir beim Organizing unterstützen. Vor wenigen Jahren kamen die Utility Workers of Tanzania [Arbeiter*innen der Versorgungsbetriebe Tansanias] zu uns. Nach dem Training schickten sie uns eine Nachricht, in der es hieß: «Früher haben wir pro Jahr ein paar Hundert Arbeiter*innen für unsere Sache gewinnen können. Jetzt haben wir 10.000 neue Mitglieder.» Das ist gutes gewerkschaftliches Organizing, und das kann vielerorts geschehen.

Wir erleben eine Organizing-Kampagne bei Starbucks und eine Reihe von Streiks und Arbeitsniederlegungen bei Amazon über das vergangene Jahr. In einigen europäischen Ländern sind für dieses Jahr große Kämpfe im öffentlichen Sektor geplant. Was hält die Zukunft Deiner Meinung nach für die Arbeiter*innenbewegung bereit? Ist mit weiteren Streiks zu rechnen?

Ich glaube nicht, dass die Streiks einfach aufhören werden. Die Frage ist: Werden wir lernen zu gewinnen? Können wir die Menschen schnell genug auf den Kampf vorbereiten und ihnen beibringen, wie man gewinnt? Die Aktivist*innen – oder zumindest diejenigen unter ihnen, die nicht an Organizing glauben – denken eher, dass es draußen heiß genug ist und sich die Welt von selbst im Kampf erheben wird, aber so läuft es nicht. Wir müssen die Leute schulen, und zwar so schnell wie möglich, denn unsere Sippe wird nicht ewig leben.

Deshalb habe ich mit dem Schreiben begonnen: Die Generation, die mich ausgebildet hat, tritt ab. Sie hat ihre Gedanken nicht in Büchern festgehalten. Ich hatte kein Handbuch, als ich mit dem Organizing angefangen habe. Um diese Arbeit zu tun, musste man zuerst bei einem anderen Organizer in die Lehre gehen. So ist auch «Organizing for Power» entstanden: Als die Pandemie ausbrach und die Lockdowns begannen, fragten wir uns, wie wir die Methoden, die wir uns von früheren Gewerkschaftsleuten angeeignet hatten, weiter entwickeln und weitergeben können. Nach einem Brainstorming beschlossen wir, es mit massiven Online-Schulungen zu probieren. Am Anfang war es schwierig und einschüchternd, aber ich denke, es ist ein großer Erfolg geworden.

Übersetzung von André Hansen und Max Henninger für Gegensatz Translation Collective.