Analyse | Sozialökologischer Umbau - Grundgesetz Staatsziel Umweltschutz – nur Stolper- oder auch Meilenstein?

Mit Einführung des Artikel 20a im Grundgesetz wurde vor knapp 30 Jahren der Schutz der natürlichen Umwelt zum Staatziel erklärt. Das hat bis heute Auswirkungen auf Regierungshandeln und Rechtsprechung, ist aber kein Selbstläufer.

Information

Autor

Uwe Witt,

Aktivist*innen stehen auf der Wiese vor dem Gerichtsgebäude in Karlsruhe und haten ein Transparent mit der Beschriftung "Act Now Or Swim Later. #fridaysforfuture"
Fridays For Future vor dem Bundesverfassungsgericht am 29.04.2021. Die Aktivist*innen begrüßen das vorangegangene Urteil zum Klimaschutzgesetz. IMAGO / Nicolaj Zownir

Das Grundgesetz (GG) schützt seit 27. Oktober 1994 auch die Umwelt. Damals wurde Artikel 20a GG eingeführt, nach dem der Staat «auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen» (und seit 2002 auch «die Tiere») schützt, und zwar «im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung».

Uwe Witt ist Referent für sozial-ökologische Transformation in der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Der Bundestag hatte damit allerdings kein neues individuell einklagbares Grundrecht eingeführt (hier auf eine gesunde Umwelt), wie es etwa das «Recht auf Leben und körperlicher Unversehrtheit» darstellt, sondern Umweltschutz als Staatsziel festgeschrieben, das wesentliche Ziele und Richtlinien für das staatliche Handeln festlegt. In Abwägungen mit Grundrechten ist das somit eine schwächere Position. Diese teilt Artikel 20a GG mit den drei anderen Staatszielen einer tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung, der europäischen Integration oder des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Artikel 20a GG formulierte jedoch erstmalig einen an die Gesetzgebung gerichteten Gestaltungsauftrag, nach dem Umweltschutz bei sämtlichen gesetzgeberischen Maßnahmen und Tätigkeiten zu berücksichtigen ist.

Das bahnbrechende Urteil zum Bundesklimaschutzgesetz

«Zu berücksichtigen» klingt zunächst etwas beliebig, hat aber durchaus Kraft. Am deutlichsten wurde dies an Hand des bahnbrechenden Urteils des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG ) vom 24. März 2021 zum Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG). Es stellt zunächst fest, dass Artikel 20a GG keinen unbedingten Vorrang gegenüber anderen Belangen genieße, sondern im Konfliktfall in einen Ausgleich mit anderen Verfassungsrechtsgütern und Verfassungsprinzipien zu bringen sei. Dabei nehme das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel weiter zu. Gleichzeitig sei Artikel 20a GG eine justiziable Rechtsnorm, die den politischen Prozess zugunsten ökologischer Belange auch mit Blick auf die künftigen Generationen binden solle.

Ist unzureichender Klimaschutz seitens des Staates also nicht direkt als individuelle Grundrechtsverletzung einklagbar, kann er unter bestimmte Umständen aber sehr wohl vor Gericht landen, wie es 2021 mit der erfolgreichen Klage von Mitgliedern der Klimabewegung gegen das offensichtlich mangelhafte KSG gelang. Das BVerfG argumentierte in seinem Beschluss nicht nur mit den aktuellen Folgen des Klimawandels hierzulande. Artikel 20a GG gebe dem Gesetzgeber auch zugunsten künftiger Generationen besondere Sorgfaltspflicht auf. Der Umweltschutz-Artikel habe zudem auch eine internationale Dimension. Entsprechend habe der Gesetzgeber das Klimaschutzziel im KSG fußend auf Artikel 20a GG verfassungsrechtlich zulässig mit dem Ziel der Pariser Klimaschutzübereinkommens bestimmt, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Zumindest diese übergreifende Zielbestimmung im KSG hatte die Bundesregierung also nicht verpatzt.

Problematisch war dafür die konkrete KSG-Zielaufteilung. Denn die Bundesregierung hatte (dem Druck der fossilistischen Lobby nachgebend) für die Zeit zwischen 2031 und 2050 keine ausreichend bestimmten Minderungsziele vorgesehen. Das BVerfG begründete die Verfassungswidrigkeit dieses Gesetzesteils mit einer Kombination der Klimaschutzvorgaben gemäß Artikel 20a GG, dem Menschenwürde-Grundrecht aus Artikel 1, dem Grundrecht nach Leben und körperliche Unversehrtheit nach Artikel 2 Absatz 2 GG (Satz 1) sowie dem Grundrecht auf Freiheit (Satz 2): Die Schutzpflicht des Staates in Bezug auf Leben und körperliche Unversehrtheit umfasse auch die Verpflichtung, vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen, so die Urteilsbegründung. Und dies nicht nur über kurze Zeitabläufe, sondern intergenerationell. Gleichzeitig verpflichte das Grundgesetz unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen. Mit den natürlichen Lebensgrundlagen sei so sorgsam umzugehen und sie der Nachwelt in solchem Zustand zu hinterlassen, schrieb das BVerfG der Bundesregierung prosaisch ins Stammbuch, dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten.

Freiheit statt Liberalismus im Sinne auch der Umwelt

Die Verfassungsrichter verlangten darum für eine bis Ende 2022 durch das Parlament (also nicht lediglich irgendwann als Verordnung, wie ursprünglich vorgesehen) vorzunehmende Konkretisierung der Klimaschutzziele im Gesetz für die Zeit zwischen 2031 und 2050. Sie wiesen zudem darauf hin, dass die zeitliche Aufteilung der Minderungslasten bis zur Klimaneutralität nicht beliebig sei, sie müsse vielmehr generationsgerecht sein. Denn «Der Verbrauch der dort bis 2030 geregelten Jahresemissionsmengen verzehrt notwendig und unumkehrbar Teile des verbleibenden CO2-Budgets», während das Grundgesetz «zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen» verpflichte.

Als Reaktion legte die Bundesregierung bereits sechs Wochen nach dem vernichtenden Urteil einen Entwurf zur Novelle des KSG vor, die wenig später verabschiedet wurde. Darin wurden für die Bundesrepublik insgesamt jährliche Minderungsziele für die Jahre 2031 bis 2040 festgeschrieben. Für die Jahre bis 2030 verschärfte der Entwurf das Gesamtminderungsziel von 55 auf 65 Prozent Treibhausgase gegenüber 1990 (ansonsten hätte nach 2030 unverhältnismäßig viel eingespart werden müssen, um Paris-konform zu sein), für 2040 galt nun ein neues Zwischenziel von 88 Prozent Minderung.

Nach aktueller Berechnung des Sachverständigenrates für Umweltfragen (SRU) liegt der Pfad des geltenden deutschen Klimaschutzgesetzes zwar oberhalb eines Pfades für maximal 1,75 °C Erderwärmung, aber noch deutlich unter 2 °C. Beides allerdings nur, wenn mit einer Wahrscheinlichkeit von lediglich 67 Prozent davon ausgegangen wird, dass die Treibhausgas-Minderung tatsächlich (anteilig) zum Temperatur-Korridor führt. Der SRU fordert, die verbleibende Lücke zum vielfach erklärten Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen, zu beziffern und politisch zu diskutieren.

Das auf das Grundgesetz gestützte Urteil hat also kein ideales Klimaschutzgesetz hervorgebracht, aber mitgeholfen, die gesetzlichen Klimaschutzziele deutlich anzuschärfen und die Minderungslasten bis zum Zieljahr der Klimaneutralität gerechter zu verteilen. Zudem ist nun überhaupt transparent, mit welchem ungefähren Restbudget an Treibhausgasen die Bundesregierung für Deutschland überhaupt arbeitet.

Grundgesetz kein Bauchladen zur Politikgestaltung

Wer aus dem Verfahren aber ableiten möchte, mittels des Grundgesetzes könnten über das Bundesverfassungsgericht jegliche (temporäre) Abweichungen von den Klimaschutzzielen oder ihrer Umsetzung geahndet werden, verkennt die Gestaltungsrolle von Parlament und Regierung, die das BVerfG diesen ausdrücklich zubilligt. Im Sinne der Gewaltenteilung, das wird aus der Begründung des Urteils deutlich, will es nicht in die konkrete Politikgestaltung von Legislative und Exekutive eingreifen – jedenfalls solange durch die Politik nicht offensichtlich Grundrechte verletzt werden.

Vor diesem Hintergrund könnten sich auch Hoffnungen zerstreuen, mittels des BVerfG die aktuelle Aufweichung des KSG infolge der de facto Abschaffung der einzelnen Sektorziele anfechten zu können, wie sie für Energiewirtschaft, Industrie, Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft in diesem Gesetz vor Jahren festgeschrieben wurden. Denn diese Aufweichung ist zwar ein Nackenschlag für Klimaschützer, insofern Bundesverkehrsminister Wissing zum Beispiel keine Sofortprogramme mehr vorlegen muss, wenn der Verkehrssektor aufgrund Nichthandelns - einmal mehr - sein jährliches Minderungsziel nach KSG verfehlt. Aus der Sicht des BVerfG wäre aber lediglich eine (drohende) Zielverfehlung der Sektoren insgesamt von Belang, sofern sie ein Ausmaß erreicht, das das zulässige Emissionsbudget in Folgejahren maßgeblich beschneidet.

Genau das sieht aktuell das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (OVG). Am 17. Mai hat es einer Klage der Deutschen Umwelthilfe recht gegeben, welche sich gegen die unzureichenden Klimaschutzprogramme der Bundesregierung bis 2030 richtete. Das Instrument «Klimaschutzprogramm» soll eigentlich die Zielerfüllung des KSG über alle Sektoren sicherstellen. Doch weder mit dem aus dem Jahr 2021 noch dem nach der KSG-Novelle aktualisierten von 2023 ließen sich die Ziele erreichen, urteilten die Richter.

Die Ohrfeige des OVG für die Bundesregierung begründet sich hier also auf der fehlenden Plausibilität, dass die geplanten Steuerungsmittel und -Instrumente (Ordnungsrecht, Förderpolitik, eigne Infrastrukturmaßnahmen) insgesamt die Einhaltung der KSG-Ziele bis 2030 ermöglichen können. Diese Einschätzung dürfte insbesondere auf den enormen Handlungsdefiziten im Verkehrs- und Gebäudebereich fußen. Die bestehenden Klimaschutzprogramme seien deshalb rechtswidrig und müssten kurzfristig um wirksame konkrete Maßnahmen nachgebessert werden, so das Urteil. «Die Bundesregierung kann sich nun nicht länger aus ihrer Verantwortung für den Klimaschutz stehlen und Maßnahmen wie ein Tempolimit auf Autobahnen oder ein Stopp der Förderung klimaschädlicher Dienstwagen verweigern», erklärte dazu DUH-Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch.

Das liegt nahe und ist längst überfällig. Bei der Wahl der Politiken und Maßnahmen ist die Politik dennoch frei, solange diese grundsätzlich die Zielerfüllung ermöglichen. Alles andere ist Sache der auf Wahlen gestützten Politik, die nicht durch Beschlüsse roter Roben ersetzt werden kann.

Mit diesem Verständnis kann vielleicht auch das Urteil des BVerfG von letztem Dezember gelesen werden, welches die Übertragung von nicht genutzte Kreditlinien des Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) auf den Klimatransformationsfonds (KTF) untersagte. In der Folge fehlen bis zum Jahr 2027 insgesamt 60 Mrd. Euro im Klimaschutz – eine Katastrophe für den Umbau, scheinbar befördert genau von jenem Gericht, welches knapp drei Jahre Früher obiges wegweisendes Klima-Urteil verabschiedete.

Man mag dieses Urteil kritisieren, vielleicht hätte es hier Entscheidungsspielraum gegeben. Im Grundsatz dürften die Verfassungsrichter jedoch nicht das Ziel gehabt haben, irgendeinen Wildwuchs in der Klimafinanzierung zu beschneiden, sondern mussten auf Antrag der Unionsfraktionen im Bundestag Haushaltsgrundsätze durchsetzen, die Union und SPD im Jahr 2009 mit ihrer Zweidrittel-Mehrheit (gegen die Stimmen der Linksfraktion und der Grünen bei Enthaltung der FDP) selbst ins Grundgesetz gefräst hatten: Die verhängnisvolle Schuldenbremse.

Unabhängig von ihr könnten wohl auch ohne neue Sondermittel erhebliche Mittel zum ökosozialen Umbau mobilisiert werden, würden hierzulande die Einkommen und Vermögen Gutverdienender besser besteuert und ökologisch kontraproduktive Subventionen gestrichen. Die Abschaffung der Schuldenbremse zumindest für Zukunftsinvestitionen würde dies unterstützen. Die Haushalts- und Umbaukrise ist im Kern also eine Krise der herrschenden Parlamentsmehrheit und der sie stützenden Gesellschaft. Also eben nicht eine Krise oder Wankelmütigkeit des Bundesverfassungsgerichts, welches vielleicht gerade weniger klimaaffin wäre als vor drei Jahren beim KSG-Urteil. Insofern werden uns weder Grundgesetz noch Bundesverfassungsgericht oder ein OVG vom Elend erlösen. Das können nur erkämpfte neue Mehrheiten.