Die deutsche Zeitgeschichtsschreibung ist sich heute weitgehend darin einig, dass die Protestbewegungen der 1960er Jahre weit reichende Folgen hatten. Sie veränderten nicht nur das politische System, sondern auch den Alltag, die Äußerungsformen der Sexualität und der Geschlechterverhältnisse, die Arbeitswelt, die Erziehung, die Kultur usw. Während dies auch im westeuropäischen Maßstab so gesehen wird, zeigen sich in der deutsch-deutschen Geschichte gewisse Verschiebungen: Was in der Bundesrepublik stärker sichtbar erscheint, existierte in der DDR bestenfalls untergründig und, wie etwa im Protest gegen die Intervention der Warschauer Pakt-Armeen gegen den Prager Frühling, punktuell.
Erst zwanzig Jahre später kam es zu einer neuen Debatte um die Reform des Sozialismus. Diese Ungleichzeitigkeit erschwert es, die Protestbewegungen der »langen 1960er Jahre« als Ausgangspunkt zu sehen, dem die Zurückdrängung und Entstellung der sozialen und politischen Emanzipationsbestrebungen folgte. Aus unserer Sicht ist diese Perspektive allerdings bedeutend, nicht zuletzt weil der Eigensinn der Proteste in der aktuellen Zeitgeschichtsschreibung so gut wie keine Rolle spielt. Wir werden im Folgenden zunächst einen Überblick über die Deutungen geben, die »1968« in der Geschichtswissenschaft bis heute erfahren hat. Danach werden wir diskutieren, was die Aktualität von »1968« aus Sicht einer kritischen, emanzipatorischen und an den aktuellen sozialen Bewegungen interessierten Geschichtswissenschaft sein könnte. Am Ende des Textes findet sich ein Literaturverzeichnis, das über die hier zitierten Texte hinaus eine Auswahl wichtiger weiterer Arbeiten zum Thema bietet.