Publikation Wirtschafts- / Sozialpolitik - International / Transnational - Globalisierung - Migration / Flucht Die Corona-Krise und die Gesellschaft

Eine Momentaufnahme Ende März 2020 von Dr. Joachim Hetscher

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Joachim Hetscher,

Seit dem März 2020 stellt die durch das Coronavirus SARS-CoV-2 ausgelöste Pandemie eine globale Herausforderung für alle Staaten dar – für die Gesundheitssysteme, die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung und der kritischen Infrastruktur sowie für die wirtschaftliche Entwicklung. Um die Ausbreitung des Virus´ einzudämmen und die ökonomischen Folgen wegbrechender Nachfrage und eingeschränkter Mobilität zu bewältigen, werden weltweit einschneidende politische Entscheidungen getroffen, Bürgerrechte eingeschränkt und Notprogramme zur Stützung der Wirtschaft aus dem Boden gestampft. Dies trifft in ungewöhnlich drastischer Weise auch die hochentwickelten Länder Europas und die USA.

Globaler Notstand

Das Auftreten und die schnelle globale Verbreitung eines hoch ansteckenden Virus´, gegen dessen Auswirkungen auf den menschlichen Organismus weder ein Impfstoff noch wirksame medizinische Mittel vorhanden sind, ist in den letzten hundert Jahren ohne Beispiel. Ähnliche neue Krankheitserreger – „Vogelgrippe“, Ebola, HIV – blieben regional begrenzt oder waren aufgrund ihrer Übertragungswege leichter einzudämmen. Das Coronavirus SARS-CoV-2 wird über die Atemluft leicht übertragen und hat eine Inkubationszeit von fünf bis 14 Tagen; Träger der Viren infizieren selbst innerhalb einer relativ langen Zeit andere Menschen, bevor Krankheitssymptome einen Verdacht auf sie lenken. Das Virus ist mittlerweile weltweit verbreitet; eine Infektion der Mehrheit aller Menschen damit ist daher wahrscheinlich, wenn nicht eine Impfkampagne dem zuvorkommen kann.  

Welche Auswirkungen die Verbreitung des Virus auf die Gesellschaften hat, ist zurzeit schwer zu beurteilen. Dabei spielen offensichtlich drei Faktoren jeweils eine Rolle: a) die Ausbreitungsgeschwindigkeit und ihre Steuerung durch gesellschaftliche Kontrollen, b) die Disposition zu schweren Erkrankungen in der Folge einer Infektion und c) die Fähigkeit der Gesundheitssysteme, die Menge der schwer Erkrankten adäquat versorgen zu können.
Bereits jetzt – Ende März 2020 – sind hinsichtlich dieser drei Faktoren sehr unterschiedliche Verläufe der Pandemie in verschiedenen Gesellschaften festzustellen. In China konnten rigorose Quarantänemaßnahmen offensichtlich eine Ausbreitung bald eindämmen. Südkorea hat mit exzessiven Tests Erfolge bei der Identifizierung von Trägern des Virus´ erzielt. Ein leistungsfähiges Gesundheitssystem in Deutschland hat glücklicherweise die Mortalitätsrate bislang sehr niedrig halten können.

Den guten Nachrichten stehen jedoch düstere Aussichten gegenüber. Die Verbreitung des Virus´ in anderen Ländern Asiens und den afrikanischen und südamerikanischen Ländern steht erst am Anfang. In Krisengebieten wie dem Gaza-Streifen oder den Flüchtlingsregionen in Nordsyrien, auch in den Flüchtlingslagern auf griechischen Inseln sind die ersten Infektionsfälle aufgetreten. Um die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Steuerung der Ausbreitung, die Disposition zu schweren Krankheitsverläufen und die Kapazitäten des Gesundheitssystems ist es in allen genannten Gebieten wesentlich schlechter bestellt als in China, Japan, Südkorea, in Westeuropa oder auch den USA.

Sollte das Virus sich auch in diesen Weltregionen ähnlich aggressiv verbreiten wie bisher und stünden dann dort keine wirksamen Medikamente bereit, wäre vermutlich noch eine wesentlich höhere Zahl von Toten zu beklagen als schon jetzt. Heute, am 23. März 2020, hat der Generalsekretär der Vereinten Nationen daher zu einem weltweiten Waffenstillstand aufgerufen, um alle Anstrengungen auf die Bekämpfung des Virus´ zu bündeln:

„Unsere Welt steht vor einem gemeinsamen Feind: COVID-19. Das Virus macht keinen Unterschied zwischen Nationalität oder ethnischer Zugehörigkeit, Gruppierung oder Glauben. Es greift alle an, unerbittlich. […] Wir dürfen nicht vergessen, dass in den vom Krieg verwüsteten Ländern die Gesundheitssysteme zusammengebrochen sind. Die ohnehin schon wenigen Gesundheitsfachkräfte sind häufig betroffen. Flüchtlinge und andere durch gewaltsame Konflikte vertriebene Personen sind doppelt gefährdet. […] Wir müssen die Krankheit des Krieges beenden und die Krankheit bekämpfen, die unsere Welt verwüstet. Es beginnt damit, dass wir die Kämpfe überall stoppen. Und zwar sofort. Das ist es, was unsere Menschheitsfamilie braucht, jetzt mehr denn je.“

So richtig die Forderung ist, so wenig kann man leider darauf hoffen, dass sie von den verantwortlichen Regierungen umgesetzt werden wird. Eine Fortsetzung des Infektionsgeschehens in den genannten Regionen unter ungünstigsten Voraussetzungen würde jedoch wenigstens teilweise die Erfolge bei der Eindämmung des Virus´ in anderen Ländern wieder zunichtemachen. Denn nationale Grenzen sind letztlich und auf längere Sicht keine Sicherheiten gegen die Verbreitung des Virus´.

Kriege, Epidemien oder Naturkatastrophen, die ähnlich große, sehr persönliche Auswirkungen auf jeden Einzelnen haben, waren in den letzten siebzig Jahren – seit dem Ende des zweiten Weltkriegs – regional begrenzt oder eingrenzbar. Im Gegensatz dazu stehen die Regierungen praktisch aller Staaten heute vor der Situation, die Gesundheit und Krankenversorgung großer Teile der Bevölkerung eventuell nicht mehr sichern zu können, und in der Folge auch nicht mehr die reibungslose wirtschaftliche Reproduktion sowie die allgemeine Sicherheit und Ordnung. Deswegen ist der Begriff eines globalen Notstands gerechtfertigt.

Ambivalente Notprogramme

Spätestens in der zweiten Hälfte des März 2020 haben daher die Regierungen der meisten Staaten Notprogramme aufgelegt, die vor allem vier Zwecke verfolgen:

  • die Ausbreitung des Virus´ durch Regulierungen der Mobilität und der Kontakte innerhalb der Bevölkerung zu beschränken, was die Einschränkung von Bürgerrechten wie Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einschließt,
  • das Gesundheitssystem durch den Ausbau der Kapazitäten den steigenden Fallzahlen der Erkrankungen und entsprechend den spezifischen Anforderungen gegen einen hoch ansteckenden Krankheitserreger anzupassen,
  • die kritische Infrastruktur zu sichern, durch Sonderregelungen für Arbeitende in diesen Bereichen, durch Konfiszierungs- und Produktionslenkungsmaßnahmen und durch logistische Sondermaßnahmen einschließlich des Einsatzes von Militär,  
  • den Einschränkungen der wirtschaftlichen Reproduktion durch Mobilitätseinbußen, Fehlen von Arbeitskräften und daraus resultierenden Produktionsbeschränkungen sowie insbesondere Wegfall der Konsumnachfrage im sozialen, kulturellen und Verkehrsbereich durch stimulierende Maßnahmen entgegenzuwirken.

Damit einher gingen Kampagnen für diese Ziele, die weitgehend konfliktlos und parteiübergreifend die genannten Maßnahmen als zwingend notwendig in der Öffentlichkeit verankerten und die so auch in allen Leitmedien ihr Sprachrohr fanden.

Die Sensibilität und Geschwindigkeit, mit der die jeweiligen nationalen Regierungen diese Programme auf den Weg brachten, variierten mit dem Grad der registrierten Betroffenheit desjenigen Landes und mit der ideologischen Offenheit gegenüber weitreichenden Maßnahmen, die das öffentliche Leben einschränken und die Wirtschaft durch Nachfragestimuli anregen sollen. Dass das Vereinigte Königreich und die USA zu den letzten Ländern der westlichen Welt gehörten, die dazu bereit waren, ist insofern nicht zufällig.

Allerdings sind diese Programme für Regierungen derjenigen Länder, in denen noch mehr oder weniger das Diktat einer neoliberalen Programmatik gilt, in zweierlei Hinsicht „Not-„Programme: Sie sind aus der schieren Not geboren, die Regierungsfähigkeit – als gesellschaftliche Ordnungsmacht und als Herrschaftsapparat – zu sichern. Zugleich bezeichnen sie eine „Not“ der bisherigen Regulierungsmechanismen: Der „Markt“ vermag angesichts der Krise nichts Positives zu bewirken. Das Individuum muss sich nicht nur seiner Freiheit, sondern auch seiner Verantwortung stellen. Der Staat ist der Gesellschaft für das Wohlergehen Aller verantwortlich.

Verblüfft registriert die Öffentlichkeit, welche ungeheuren Summen der Staat für Bürgschaften, Beteiligungen, Entschädigungen und Sozialleistungen zur Verfügung stellen kann, wenn es darauf ankommt. In den Verfassungsrang erhobene „schwarze Nullen“ verblassen, in Stein gemeißelte „Defizitgrenzen“ werden über Nacht geschleift. Und sofort stellt sich angesichts dessen die Frage: Kommt es nicht auch bei anderen Fragen „darauf an“ – bei der Bekämpfung von Fluchtursachen, bei der Beseitigung globaler sozialer Ungleichheit, bei der Bewältigung des Klimawandels?
Es spricht daher Vieles dafür, dass der Neoliberalismus als Ideologie die Corona-Pandemie nicht überleben wird. Aber wie verhält es sich mit seinen ökonomischen Grundlagen? Und wie werden sie durch die Pandemie beeinflusst?

„Natürliche“ Rezession, Finanzmärkte und soziale Ungleichheit

Die durch „Social Distancing“ im Zuge der Pandemie-Bekämpfung erzwungenen Einschränkungen der Produktion, des Verkehrs und von Dienstleistungen haben natürlich unmittelbar eine Störung und Beschränkung der gesellschaftlichen Reproduktion zur Folge. Diese „natürlichen“ Störungen – das Fehlen von Arbeitskräften, das Verbot oder die Einschränkung des Betriebs mancher Branchen, Beschränkungen und Friktionen im Personen- und Warenverkehr – führen zu einem Rückgang der Produktion von Waren und Bereitstellung von Dienstleistungen, nicht nur national, sondern global. Sie bedeuten ebenso verringerte Möglichkeiten der Kapitalverwertung und eine insgesamt geringere Nachfrage nach Arbeitskräften.

Das Ausmaß dieser „natürlichen“ Krise ist enorm. Ihre Auswirkungen auf die Wachstumsbilanzen der nationalen Wirtschaften wird auf ein Minus von vier bis fünf Prozent für dieses Jahr geschätzt, wodurch die westeuropäischen Länder und die USA in eine starke Rezession geraten dürften.

"Natürliche Rezession": Mit dem Begriff meine ich, dass die Einschränkung der gesellschaftlichen Reproduktion in diesem Fall durch die Pandemie und ihre Auswirkungen hervorgerufen wird. Zwar handelt es sich nicht um ein rein "natürliches Ereignis", weil die Verbreitung des Virus´ ja unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen stattfindet. Es ist aber die durch Begrenzungen der Produktion und der Mobilität hervorgerufene Verringerung der Wertschöpfung von Waren und Dienstleistungen, die der Auslöser der ökonomischen Krise ist. – Dieser Auslöser trifft auf eine kapitalistische Ökonomie, die heute von der fortwährenden Investition in Zukunftserwartungen lebt, die da und dort lukrativ ist (nicht unbedingt nachhaltig), da und dort auch nicht, die sicher aber ihre im Durchschnitt geringen Zuwachsraten aus einem immerwährenden Zustrom von billigem Kapital der Zentralbanken und Anlagen risikobereiter Vermögender sichern kann. Der größte Teil dieses Kapitalumschlags findet im Finanzsektor statt. – Auch die Akteure in diesem Bereich wissen aber, dass letztlich Forderungen, so kunstreich sie auch verpackt werden, ausgeglichen werden müssen. - Die Aussicht auf eine möglicherweise länger andauernde Rezession macht die Aussicht auf ein gutes Ende dieses Spiels zunichte, oder, um es für Investoren zu formulieren, unglaubwürdig.

Es handelt sich daher nicht um eine Krise des Kapitalismus wie in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, die vor allem in inneren Widersprüchen der Kapitalakkumulation und der Handelsbeziehungen zwischen den kapitalistischen Ländern begründet war.

An den Finanzmärkten hat der endgültige Ausbruch der Corona-Krise zum vorläufigen Ende einer langanhaltenden Aufwärtsbewegung der Aktien-Leitindexe geführt. Diese brachen im März um ein Drittel ein. Und es ist durchaus fraglich, ob damit schon ein Boden erreicht worden ist. Denn die langanhaltende Hausse speiste sich zum erheblichen Teil aus sehr billigen oder praktisch zinslosen Liquiditätshilfen der Zentralbanken, die seit der Finanzkrise 2008 die Finanzmärkte dauerhaft mit billigem Geld versorgt haben. Dass dabei wiederum eine Blase zweifelhafter Privat- und Unternehmenskredite und hochspekulative Finanzmarktpraktiken aufgebaut wurden, wurde von Beobachtern immer wieder vermerkt, insgesamt jedoch in Kauf genommen. Mit dem „Corona-Ereignis“ brach jedoch die Zuversicht an den Finanzmärkten, dass dieses Spiel so weitergehen könne, abrupt zusammen.

Die ersten wirtschaftspolitischen Interventionen zur Corona-Krise kamen daher auch von den Zentralbanken, die – wie die FED und die Bank of England – den Leitzins gleich auf null senkten oder – wie die EZB und die FED – riesige Programme zum Ankauf von Anleihen verkündeten, offensichtlich getrieben von der Angst, dass die Panik an den Börsen sich in eine Verminderung der Geldmenge verwandeln könnte.

Die andere Seite der Vermehrung des flüssigen Kapitals, des stetigen Anwachsens der Kurswerte in den vergangenen zehn Jahren und länger, war zum einen die Vergrößerung der sozialen Ungleichheit in Westeuropa und den USA durch Prekarisierung und sinkende Lohnquoten, zum anderen das Ausbluten staatlichen Vermögens und öffentlicher Investitionen durch eine rigide Sparpolitik. Auf dieser Seite – der öffentlichen gesellschaftlichen Einrichtungen und der Arbeits- und Sozialeinkommen – wirkt sich die Corona-Krise gegenwärtig noch nicht so drastisch wie jetzt schon an der Börse, aber mit Blick auf die nächsten Monate viel katastrophaler aus:

Am unmittelbarsten betroffen sind die prekarisierten Teile der Arbeiterklasse und der Mittelschichten, z.B. kleine Selbstständige. Die Corona-Krise bedeutet hier Arbeitslosigkeit und Verlust der Einkünfte ohne Aussicht darauf, wann diese Durststrecke enden wird. Markant ist das Explodieren der Anträge auf Arbeitslosenunterstützung in den USA in einer Woche Ende März auf das Zehnfache der Vorwoche; eine Arbeitslosenquote von 20 Prozent wird in diesem Land für möglich gehalten.

In Deutschland wird mit über drei Millionen Kurzarbeitenden gerechnet. Die IG Metall vereinbarte in ihrer Vorzeigebranche Metall/Elektro einen „Krisentarifvertrag“ mit null Prozent Lohnentwicklung. In der Automobilindustrie Deutschlands wird damit gerechnet, dass weit über zehn Prozent aller dortigen Arbeitsplätze wegfallen könnten. – Auch in den höherqualifizierten und besser abgesicherten Teilen der Arbeiterschaft wird es zu herben Einkommensverlusten und zu steigender Arbeitslosigkeit kommen.

Die Hilfsprogramme, die von den Regierungen Westeuropas und den USA aufgelegt wurden, enthalten daher – neben dem Schwerpunkt Liquiditätshilfen – auch Komponenten der Einkommensstützung für weite Teile der Bevölkerung, ob durch Bundeszuschüsse an die Arbeitsagentur für Kurzarbeitergeld oder „Helikoptergeld“ der amerikanischen Bundesregierung, um einen im April drohenden Nachfrageschock und einen zu befürchtenden explosiven Anstieg der Inanspruchnahme grundlegendster Fürsorgeprogramme zu vermeiden. Der finanzielle Umfang dieser Programme ist bereits jetzt zwei- bis dreimal so groß wie der der Programme gegen die Finanzkrise 2008.

Damit steht den öffentlichen Haushalten dieser Länder eine Zeit großen Ungleichgewichts ins Haus: Die jetzige Kreditaufnahme wird über kurz oder lang gegenfinanziert werden müssen. Wie dies geschehen wird – über eine stärkere Belastung hoher Einkommen und des Vermögens oder über eine Fortsetzung der Sparpolitik und eine Belastung mittlerer Einkommen –, wird die gesellschaftliche Entwicklung im Ausgang wesentlich prägen.
Dazu kommt: Die Verfechter einer Abkehr von globalen oder regionalen Kooperationen und einer Re-Nationalisierung der Wirtschaftspolitik – mit den USA und Großbritannien als Vorreitern – haben die Bereitschaft zu einer internationalen Krisenpolitik und auch ihre Institutionen bereits schwer beschädigt. Es scheint so, dass die Corona-Krise diese Tendenz weiter verstärken wird, indem die wirtschaftsstärkeren nationalen Regierungen darauf setzen werden, die eigenen Ressourcen zuerst für die eigenen Probleme einzusetzen. Angesichts der globalen Dimension der Krise kann dies nur zu einer Vergrößerung der wirtschaftlichen Unterschiede und Differenzen zwischen den Staaten führen.

Die Kultur der Krise und die beginnende Auseinandersetzung

Schockartig haben die Notwendigkeiten des „Social Distancing“ und die erforderliche Rasanz der staatlichen Notprogramme die Zivilgesellschaften verändert. Das sportliche, religiöse, kulturelle und politische Leben kam ruckartig zum Erliegen. Die robusten Strukturen des Staates als Ordnungsmacht rückten vollständig in den Vordergrund.

Der „Lockdown“ des öffentlichen Lebens ist durchaus janusköpfig. Zum Ersten stellt er nachdrücklich unter Beweis, wie weitreichend und wie schnell einschneidende Veränderungen – zumindest für eine kurze Zeit – in modernen Gesellschaften durchgesetzt werden können. Nicht unwichtig ist es, dass die entscheidende Autorität, die medialen Rückhalt und Akzeptanz für diese Maßnahmen liefert, die Wissenschaft ist – quasi der Virologe als Leitfigur. Zum Zweiten wird deutlich, wie fragil und dünnhäutig die bürgerlichen Freiheitsrechte und Partizipationsgarantien sind, die von vielen bisher als selbstverständlich angesehen wurden.

Das zweite Moment spielt jedoch gegenwärtig eine kleine Rolle, weil – und das ist ein drittes Element der Kultur der Krise – die Bekämpfung der Infektionsgefahr im Alltag nicht lediglich als staatsbürgerliche Pflicht, sondern vielmehr als Gebot solidarischen Zusammenlebens verstanden und gelebt wird. Es wird dieses kulturelle Element sein, auf das im Ausgang aus der Corona-Krise gesetzt werden muss, um einen sozialen und humanen Umgang mit den Krisenfolgen in der Gesellschaft durchzusetzen, und das auch genutzt werden muss, um die momentane Einschränkung wesentlicher Grundrechte wieder zu überwinden – in der Auseinandersetzung um den Ausgang aus der Krise.

Denn die Auseinandersetzung um das „Danach“ hat bereits begonnen. Neoliberale Publizisten mahnen, staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Infektionsgefahr dürften nicht zu lange die Tätigkeit der Unternehmen behindern. Ihr Argument: Eine tiefe Rezession hätte vermutlich so weitreichende wirtschaftliche und soziale Folgen – Armut, Ausbleiben von Innovationen, Verminderung staatlicher Ressourcen –, dass die humanitären Folgen ähnlich schwerwiegend wie die bei einer Vielzahl von schweren Viruserkrankungen wären.

Eine solche Denkweise setzt selbstverständlich voraus, dass die alte Rollenverteilung bestehen bleibt: dass nämlich die Kosten der Krise von den 99 Prozent bezahlt werden. Die Alternative liegt aber darin, den gesamten gesellschaftlichen Reichtum zur Bewältigung aller Folgen der Krise zu mobilisieren, diejenigen sogar besonders zu schützen und zu fördern, die am gefährdetsten und am geschwächtesten sind. Es kann sein, dass dann alle mit weniger auskommen müssen. Es darf aber nicht sein, dass dann wieder einige vom Weniger mehr für sich wollen.

Die erste Phase der Corona-Krise wird hoffentlich in einigen Monaten mit einer Eindämmung der Infektionsgefahr, gegen die es zurzeit keine in der Breite wirksamen medizinischen Mittel gibt, zu Ende gehen. Dies ist auf dem gegenwärtigen Stand möglich, aber nicht gesichert. – Die mittelfristigen Auswirkungen dieser Krise werden vermutlich darin bestehen, dass die Weltwirtschaft in eine vermutlich ein Jahr oder länger andauernde Phase der Rezession übergeht. Völlig unklar ist hingegen, wie sich die erste Phase der Krise auf die sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnisse derjenigen Staaten auswirken wird, die ein schwaches Gesundheitssystem und ohnehin schon fragile soziale Strukturen haben. – Maßnahmen der unmittelbaren Gefahrenabwehr und -eindämmung können und müssen kurzfristig entschieden werden; Maßnahmen, die bereits in die zweite Phase der Krise reichen – eine weltweite Rezession und die Destabilisierung vieler armer Weltregionen – müssen diese weitere Perspektive schon berücksichtigen.

Ein global wirksames Gesundheitssystem

Alle Menschen müssen in den nächsten Monaten Zugang zu einer kostenlosen und qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung erhalten. Als Mindestanforderung muss dieses eine global wirksame Eindämmung des Corona-Virus´, eine Bekämpfung der Infektionen ohne soziale Selektion und in der Perspektive eine Impfung gegen den Erreger ermöglichen. Dazu bedarf es zusätzlicher finanzieller Mittel für die schnelle Entwicklung der Gesundheitssysteme in allen Ländern, also auch umfangreicher internationaler Transfers in die ärmeren Länder. Fehlsteuerungen der Gesundheitssysteme durch eine Minderversorgung sozial Schwächerer oder die Orientierung an Fallpauschalen statt an Kennziffern öffentlicher Gesundheit müssen beseitigt werden.

Ein globales Programm gegen die Corona-Krise

Die bereits angelaufenen nationalen Notprogamme gegen die Corona-Krise nutzen die schnelle Reaktionsfähigkeit von Nationalstaaten gegen landesweite Krisen. Ihre Wirkung gegen globale Krisen ist jedoch begrenzt: weder können sie den Zusammenbruch internationaler Lieferketten und der Exportnachfrage verhindern noch die Rückwirkungen von Infektionsgeschehnissen in anderen Ländern auf die jeweiligen Staaten beherrschen, wollen sie nicht die Auswirkungen der Krise durch eine aggressive Selbstisolation verschlimmern. – Notwendig sind daher eine Debatte und eine Vereinbarung um den globalen Weg aus der Krise, einschließlich der erforderlichen Hilfsmaßnahmen für die Ärmeren. Der richtige Ort dafür sind die Vereinten Nationen und ihre Einrichtungen wie die OECD.

Staatliche Nachfrageprogramme

Die Zeit der neoliberalen Heilsversprechen, wirtschaftliche Entwicklung durch die Bereitstellung billigen Kapitals für Investoren zu befördern, ist vorbei. Solche Programme sind zum Ersten nicht geeignet, Investitionen so zu lenken, dass auch in Zeiten einer wirtschaftlichen Rezession gesellschaftlich unverzichtbare Funktionen erfüllt werden. Dass Lebensmittelversorgung, Energie- und Abfallwirtschaft, Gesundheitswesen und öffentliche Verwaltung dazu gehören, ist unbestritten; aber auch Medien, Kulturwirtschaft, personale Dienstleistungen müssen unter diesem Aspekt diskutiert werden. Dazu braucht es staatliche Nachfrageprogramme, ob durch den öffentlichen Sektor oder mit entsprechenden Auflagen für den privaten Sektor.

Zweitens müssen solche Programme den Ausfall privater Nachfrage durch wegbrechende Einkommen aus Arbeit kompensieren, durch Lohnsteigerungen, dauerhaften Wegfall von Restriktionen bei der Grundsicherung, Steuersenkungen auf Arbeitseinkommen usw.

Die Gegenrechnungen zur Finanzierung nachfrageorientierter Programme liegen in verschiedener Form vor, bei gewerkschaftlichen Forschungseinrichtungen oder bei linken Parteien. Sie setzen in realistischer Weise auf eine höhere Besteuerung großer Einkommen und Vermögen, auf eine Ausweitung der Staatsverschuldung und eine bessere Verteilung der Lasten für die Sozialsysteme durch die Einbeziehung höherer Einkommen.

Der Aufbruch des Sozialen

Der nachhaltige gesellschaftliche Zusammenhalt in Krisenzeiten ist das solidarische Alltagshandeln der einfachen Menschen, das einfache Verständnis, dass dem in Not Geratenen geholfen werden muss, weil jede und jeder in Not geraten kann. Es ist richtig, dass dieses soziale Grundgefühl in Gefahr steht, ideologisch ausgeschlachtet zu werden – als Zustimmungsbeweis zum Regierungshandeln oder, im schlimmen Fall, als Beschwörung der „Volksgemeinschaft“ gegenüber dem Fremden. Dies spontane Moment der Solidarität als tragendes Moment einer sozialen Erneuerung im Ausgang aus der Krise zu mobilisieren – „alle gegen Corona, alle gegen die Krise, alle gegen die Armut“ – und daraus politisches Bewusstsein zu entwickeln, ist eine Aufgabe, die jetzt bereits beginnt.


Zum Autor: Dr. Joachim Hetscher ist Mitglied im Beirat der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW.