Publikation Arbeit / Gewerkschaften - Gewerkschaftliche Kämpfe Machtaufbau in Tarifverhandlungen

Fallbeispiele aus den USA und Deutschland

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Autor*innen

Jane McAlevey, Abby Lawlor,

Herausgeber*innen

Florian Wilde,

Erschienen

Mai 2023

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Die Tarifverhandlung als eine Gelegenheit zum gewerkschaftlichen Machtaufbau durch die unmittelbare Einbeziehung einer großen Zahl der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten in das Verhandlungsgeschehen selbst zu begreifen – dieser Vorschlag der US-amerikanischen Organizerin Jane McAlevey klingt so innovativ, wie herausfordernd. Dass es aber durchaus funktionieren kann, dies belegen Fallstudien aus den USA und Deutschland, die wir mit dieser Broschüre vorstellen.

Tarifverhandlungen sind gewissermaßen die Königsdisziplin der Gewerkschaftsarbeit. Die konkreten Kräfteverhältnisse zwischen Arbeit und Kapital in einem Betrieb oder einer Branche verdichten sich im Verhandlungsprozess und schlagen sich schließlich in einem Tarifvertrag nieder.  Er betrifft ganz unmittelbar die Welt der Arbeit - Löhne, Arbeitszeiten, Gesundheitsschutz, Personalbemessungen etc. erfahren hier Regelungen. Damit tangiert er aber auch das Leben der Arbeitenden weit über den Arbeitsplatz hinaus: Ob sie ihre Miete noch zahlen, sich einst gar ein Häuschen kaufen können; ob das Geld für einen schönen Urlaub, eine gute Bildung der Kinder und im Alter für eine auskömmliche Rente reicht, ja, sogar ob man überhaupt alt oder von der Arbeit jung verheizt wird – all diese Fragen können sich im Ausgang einer Tarifverhandlung entscheiden. Sie ist für die Beschäftigten wie für ihre Gewerkschaften daher von höchster Bedeutung. Und trotzdem ist die Tarifverhandlung bisher eine Art blinder Fleck in der deutschen Diskussion um eine Erneuerung der Gewerkschaften geblieben.

Diese Erneuerungsdiskussion setzte nach der Jahrtausendwende vor dem Hintergrund einer tiefen Defensive und Krise der Gewerkschaften – Rückgang ihrer institutionellen Macht, einbrechende Mitgliederzahlen, sinkende Tarifbindung – zunächst unter kritischen Wissenschaftler:innen ein und verband sich rasch mit einer Suchbewegung nach neuen Wegen innerhalb der deutschen Gewerkschaften selbst. Erprobt wurden in der Folge neue Methoden der Ansprache, der Mitgliedergewinnung und gestärkter Beteiligung. Eine wichtige Rolle innerhalb dieser Erneuerungsbemühungen spielte ab ca. 2005 die Übernahme von in den USA entwickelten Organizing-Methoden der dortigen Gewerkschaften: eine systematische Kampagnenführung gegen die wieder verstärkt als Gegner begriffene Arbeitgeberseite, Aufbau betrieblicher Aktiven-Strukturen für neue Handlungsfähigkeit, Bündnisarbeit mit sozialen Bewegungen und gezielte Erschließung bisher gewerkschaftsfreier Betriebe durch den Einsatz von Organizern.

Zunächst auch von linken Gewerkschafter:innen begeistert aufgegriffen, machte sich in den 2010er Jahren eine gewisse Enttäuschung breit: obwohl Organizing-Methoden immer stärker auch in die gewerkschaftliche Regelarbeit implementiert wurden, blieben sowohl die erhoffte Stärkung der gewerkschaftlichen Durchschlagskraft nach außen, als auch die für viele mit Organizing verbundenen Hoffnungen auf eine Veränderung der Gewerkschaften nach Innen durch eine Verschiebung der Gewichte von den Apparaten hin zu den betrieblichen Aktiven-Strukturen unterhalb der anfangs euphorischen Erwartungen.

Seit 2019 versucht die Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Organizing-Diskussion durch die Einführung der Methoden der US-amerikanischen Organizerin Jane McAlevey neuen Schwung zu verleihen. In jenem Jahr hatte McAlevey ihren ersten Auftritt in Deutschland auf der Braunschweiger «Streikkonferenz» von Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) und zahlreichen lokalen Gewerkschaftsgliederungen vor über 800 Teilnehmenden. Zu diesem Anlass veröffentlichte die RLS auch ihr Buch «No Shortcuts» unter dem Titel «Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing». 2021 folgte ihr Buch «Macht. Gemeinsame Sache. Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie», diesmal von der RLS gemeinsam mit der IG Metall Jugend herausgegeben. Tatsächlich konnten McAleveys Methoden seitdem die Gewerkschaftsarbeit in Deutschland inspirieren. Dies gilt insbesondere für die ver.di-Krankenhausbewegung der Beschäftigten von Charité, Vivantes und Tochtergesellschaften 2021 in Berlin, der sie als Beraterin zur Seite stand und deren Erfahrungen sie in dieser Broschüre auswertet, und in der Folge auch für die Krankenhausbewegungen in NRW und andernorts. Aber auch über den Krankenhausbereich hinaus konnte Jane McAlevey bereits sichtbare Spuren in der Gewerkschaftspraxis hinterlassen: In der Tarifrunde Öffentlicher Dienst 2022/23 erhielt die von ihr inspirierte Methode eines Stärketests mittels einer Unterschriftenpetition Einzug in die zentrale Kampagnenplanung von ver.di für die größte Tarifrunde Deutschlands. In der Anfangsphase der Tarifbewegung wurden Betriebe und Betriebsteile definiert, in denen die Beschäftigten sich das Ziel setzten, eine Mehrheit ihrer Kolleg*innen für eine Unterschrift zur Unterstützung der Forderungen zu gewinnen. Erfolgreiche Mehrheiten wurden dann in Form von großen Unterschriftentransparenten führenden Kommunalpolitiker*innen überreicht und damit die eigene Macht demonstriert. Aber auch im Organisationsbereich der IG Metall wurde bereits kreativ mit der Anwendung dieser Methoden experimentiert, etwa durch Foto-Petitionen, bei denen Beschäftigte mit ihren Fotos auf Transparenten ihren Forderungen Nachdruck verleihen. Und auch international sorgt Jane McAlevey mittlerweile für Furore: etwa 30.000 Menschen aus Gewerkschaften und sozialen Bewegungen aus über 130 Ländern nahmen seit 2019 an den «Organizing for Power»-Online-Trainingskursen der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Jane McAlevey teil, und viele von ihnen tragen diese Methoden nun in ihre Gewerkschaften und Bewegungen zurück.

Kern ihres strukturbasierten Organizing-Verständnisses ist eine Gewerkschaftsarbeit, in deren Zentrum der Aufbau betrieblicher gewerkschaftlicher Mehrheiten steht, die für sie relevante, oft lebensverändernd weitgehende Forderungen definieren, sich dabei selbst als Gewerkschaft begreifen und jeden Schritt einer sie betreffenden Auseinandersetzung bestimmen und gestalten können. Als notwendige Methoden für den Aufbau betrieblicher Mehrheiten gelten ihr dabei strukturierte Organizing-Gespräche. Mit ihnen sollen auch Kolleg*innen gewonnen werden, welche der Gewerkschaft gegenüber bisher eher indifferent bis feindlich eingestellt waren und insbesondere die in einer Belegschaft besonders angesehenen Kolleg*innen (betriebliche Schlüsselpersonen / «organic leaders»). Durch sogenannte «Strukturtests» (Stärketests) sollen sie ihre kollektive Handlungsfähigkeit immer weiter ausbauen und dann – möglichst gemeinsam mit anderen Beschäftigtengruppen sowie anderen gesellschaftlichen Akteuren und in einem strategischen Zeitfenster erhöhter gesellschaftlicher Aufmerksamkeit wie etwa einem Wahlkampf – in den Streik treten. Doch McAlevey bleibt hier nicht stehen, sondern geht noch einen Schritt weiter und bezieht auch die anschließende Tarifverhandlung selbst in einen Machtaufbau durch Organizing ein. Ihr Grundgedanke dabei ist ein einfacher: je stärker die Beschäftigten nicht nur in die Aufstellung und das Erkämpfen ihrer Forderungen, sondern auch in den Verhandlungsprozess selbst einbezogen werden, desto engagierter und geschlossener werden sie für ihre Sache eintreten. Je mehr Beschäftigte bei einer Tarifverhandlung Auge-in-Auge mit der Arbeitgeberseite in einem Raum sitzen – und Jane McAlevey gelangen Tarifverhandlungen, bei denen große Säle gemietet werden mussten, damit ein kompakter Block aus hunderten Arbeiter:innen unmittelbar der Geschäftsführung gegenüber sitzt und für ihre eigenen Angelegenheiten eintritt – desto größer wird das Wissen, die kollektive Stärke und damit die Durchsetzungsmacht der Beschäftigten sein – und entsprechend größer auch die Angst der Arbeitgeberseite vor ihnen. Zugleich betrachtet McAlevey ihren Ansatz eines «Big and Open Bargaining», also großer und offener Tarifverhandlungen, als eine elementare Form der politischen Bildung, bei der die Beschäftigten den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ganz unmittelbar in einem Raum erleben und zugleich ihre Durchsetzungsmacht als organisiertes Kollektiv erfahren und einschätzen können. Offene Verhandlungen machen die Handlungen der Gegnerseite und die eigene Stärke transparent, was auch Verständnis für gegebenenfalls notwendige Kompromisse aufgrund unzureichender Kräfteverhältnisse ermöglicht. Dadurch wächst auch die Bereitschaft, die eigenen Strukturen für die nächste Tarifverhandlung entsprechend weiter zu stärken. Die unmittelbare Beteiligung der Beschäftigten an den Tarifverhandlungen erlaubt ihnen, die realen Kräfteverhältnisse in ihrem Betrieb / ihrer Branche wirklich einschätzen zu können, was sie überhaupt erst in die Lage versetzt, eigenständig Strategien zu entwickeln und tatsächlich zum Subjekt der sie betreffenden Auseinandersetzung zu werden – und nicht im entscheidenden Moment wieder in eine faktische Zuschauerrolle zu rutschen.

Das Streben nach einer Demokratisierung der Gewerkschaftsarbeit durch gestärkte Beteiligung und Partizipation, dass die Erneuerungsbewegung in den deutschen Gewerkschaften von Anbeginn an kennzeichnet, wird mit dieser Methode in die Tarifverhandlung selbst hinein verlängert. Die möglichst massenhafte, unmittelbare Involvierung von Beschäftigten in den Verhandlungsprozess stärkt nicht nur ihre Position im Verhandlungsgeschehen selbst, sondern führt auch zu einer wachsenden Identifikation mit der Gewerkschaft und einer Festigung der gewerkschaftlichen Strukturen – und damit zum Aufbau von Durchsetzungsmacht für kommende Auseinandersetzungen.

Dieser Ansatz bricht auch in den USA mit jahrzehntelang entwickelten Routinen von Tarifverhandlungen, bei denen eine geringe Zahl von teils von den Beschäftigten gewählten Vertreter*innen und teils hauptamtlicher Gewerkschafter*innen die Verhandlungen stellvertretend für eine Belegschaft führt. Doch diese Routinen und Traditionen fußen nicht auf gesetzlichen Vorgaben, sind nicht in Stein gemeißelt und lassen sich verändern, wenn eine Gewerkschaft dies will. Dass eine Kultur großer und offener Tarifverhandlungen in der Praxis nicht nur funktionieren, sondern sogar zu tiefgreifenden Erfolgen führen kann, unterstreichen die in dieser Broschüre vorgestellten Beispiele aus den USA. Die Fallstudie zum Kampf der Beschäftigten der Berliner Krankenhäuser Charité und Vivantes samt ihrer ausgegliederten Tochtergesellschaften verdeutlicht wiederum, dass sich diese Methoden auch unter den Bedingungen des deutschen Tarifsystems kreativ weiterentwickeln, anpassen und anwenden lassen.

Die Fallstudien zu den Erfahrungen mit offenen Tarifverhandlungen bei Hotelbeschäftigten in Boston, Pflegekräften in Massachusetts und Lehrer*innen in New Jersey stammen, wie die Einleitung, aus der Studie «Turning the Tables: Participation and Power in Negotiations», die Jane McAlevey zusammen mit der Organizerin und Arbeitsrechtlerin Abby Lawlor im Mai 2021 für das Labor Center der Universität Berkeley (Kalifornien) vorlegte. Das Kapitel zur Berliner Krankenhausbewegung stammt aus dem Buch «Rules To Win By: Power and Participation in Union Negotiations», das Jane McAlevey am 23. März 2023 erstmal in der renommierten Buchhandlung «The Strands» in New York der Öffentlichkeit präsentierte.

Wir hoffen, mit der Veröffentlichung dieser Broschüre einen Beitrag zur Diskussion um eine Erneuerung der Gewerkschaften und darin insbesondere zum Thema Organizing zu leisten, und dazu anzuregen, auch die Tarifverhandlung selbst stärker als eine Möglichkeit des Machtaufbaus durch Organizing zu begreifen, in dem die Potenziale einer unmittelbaren Beteiligung der Beschäftigten am Verhandlungsprozess noch stärker ausgeschöpft werden, als dies bisher üblich ist.

Vorwort von Florian Wilde, Referent für aktivierende und internationale Gewerkschaftspolitik im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Inhalt

  • Vorwort
  • Einleitung
  • Offene Tarifverhandlungen als Instrument zum Machtaufbau
  • Fallstudien
  • Die Hotelbeschäftigten von Boston
  • Die Pflegekräfte aus Massachusetts
  • Die Lehrer*innen aus New Jersey
  • Die Berliner Krankenhausbewegung

Autorinnen

Jane McAlevey war bereits früh in einer Studierendengewerkschaft aktiv und engagierte sich in den 1980er Jahren in der Solidarität mit der sandinistischen Revolution in Nicaragua. Nach dem Studium arbeitete sie zunächst mehrere Jahre für eine Umwelt-NGO. 1995 wurde sie Gewerkschafts-Organizerin und wirkte 15 Jahre in führender Position in diversen Kampagnen der AFL-CIO, später auch im Gesundheitsbereich der Gewerkschaft SEIU sowie ihrer besonders kämpferischen Gliederung Local 1199 New England. 2019 erschien von ihr im Hamburger VSA: Verlag «Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing», und 2021 «Macht. Gemeinsame Sache. Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie». Seit 2019 veranstaltet die Rosa-Luxemburg-Stiftung mit ihr das globale online-Trainigsprogramm «Organizing for Power» (O4P).

Abby Lawlor ist Organizerin und Arbeitsrechtlerin in Seattle. Gegenwärtig arbeitet sie für das Public Rights Project.