"Die Welt verändern" - "Das Leben ändern": Avantgarde, Politik und Literatur im 20. Jahrhundert

Das aktuelle Bedürfnis, auf die „klassische“ Avantgarde einzudreschen, ihre Ansätze als totalitär, ihr Vorgehen als terroristisch zu verunglimpfen, zeigt, wieviel Virulenz und wieviel Unabgegoltenes nach wie vor im „Projekt Avantgarde“ enthalten ist.

Als vor 100 Jahren das „Manifest des Futurismus“ erschien und sich in Windeseile um die Welt verbreitete, begann sich eine neue Konstellation abzuzeichnen, die aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht mehr wegzudenken ist: Literaten, die nicht nur Literatur, Künstler, die nicht nur Kunst machen wollten, sondern sich als Agenten, als Förderer, als Vorreiter, eben als „Avantgarde“ einer kulturellen Erneuerung verstanden, die alle Lebensbereiche erfassen sollte. Dieser umfassende Ansatz, von der Kunst her das Leben und die Welt zu verändern, musste die künstlerischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts unweigerlich in Konkurrenz zupolitischen Gesellschaftsentwürfen bringen. Das daraus resultierende komplexe Verhältnis aus Konflikt und Solidarität zwischen künstlerischen und politischen Bestrebungen trug nicht unwesentlich zur kulturellen Dynamik vor allem (aber nicht ausschließlich) der westlichen Gesellschaften in der Zwischenkriegszeit bei. Die Schockwellen der Avantgarde begannen erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts allmählich zu verebben, um einem breiten kulturindustriellen Verdauungsprozess zu weichen. Gleichwohl zeigt das aktuelle Bedürfnis, auf die „klassische“ Avantgarde einzudreschen, ihre Ansätze als totalitär, ihr Vorgehen als terroristisch zu verunglimpfen, wieviel Virulenz und wieviel Unabgegoltenes nach wie vor im „Projekt Avantgarde“ enthalten ist. Walter Fähnders, Professor für Germanistik in Osnabrück, hat zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema Avantgarde vorgelegt, darunter jüngst das gemeinsam mit Hubert van den Berg herausgegebene „Metzler Lexikon Avantgarde“ (2009).